Zur Kritik der Expertokratiekritik

In der Kritik an Expertokratie wird eine Seite interessanterweise oft vergessen: die der Wissenschaft selbst. Erst, wenn man aber einen genaueren Blick auf deren Strukturen und Praktiken richtet, wird es möglich, der populistischen Vorstellung einer Fremdbestimmung durch das „Wissen“, das implizit als Ausdruck einer dem Volk entgegenstehenden heteronomen Elite gedeutet wird, nicht nur quasi wissensfreie Sphären von Werturteilen oder Antagonismen entgegenhalten – die vermeintlich reine Politik –, sondern eine Demokratisierung der Wissensproduktion. Diese kann sich auf unterschiedliche Ebenen erstrecken: die Demokratisierung wissenschaftlicher Institutionen, die Zurückdrängung kommerzieller Interessen, die Ausweitung der aktiven und passiven Teilhabe an Forschung …

„Zur Kritik der Expertokratiekritik“ weiterlesen

Die (Un-)Möglichkeit des Wohnens. Das Interieur als Ideologie und Utopie

Im vierten Abschnitt seiner Exposees zum Passagen-Projekt und den korrespondierenden Notizen wendet sich Walter Benjamin (1983a, S. 52 f.) der Frage des Wohnens zu. Der bürgerliche Wohnraum um die Mitte des 19. Jahrhunderts gilt ihm vor allem als Kompensation für die entfremdete und unpersönliche Welt, der durchrationalisierten und fremdbestimmten Arbeitsstätten und der anonymisierten und blasierten großstädtischen Öffentlichkeit, wie sie schon Georg Simmel (2009 zuerst 1903) beschrieben hatte. Im Zentrum dieser Sphäre der Privatheit stand das Interieur. In ihm wurden die Waren-Dinge zu Symbol-Dingen: sie erfuhren eine Aufladung mit spezifischer Bedeutung. Ästhetisch und haptisch wird zudem den rohen, kalten und glatten Flächen der Räume der Nützlichkeit das Weiche, das Überzogene und Behangene entgegengehalten, in die sich die Spuren der Bewohner*innen einschrieben. Mit Benjamin kann man das Wohnen dieser Zeit im Wesentlichen als ideologisch fassen: die ästhetische und symbolische Gegenwelt ankerte im Bestreben des Bürgertums, „sich für die Spurlosigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen“, wie Benjamin an einer verwandten Stelle seines Baudelaire-Buches bemerkt (Benjamin 2011, S. 754).

„Die (Un-)Möglichkeit des Wohnens. Das Interieur als Ideologie und Utopie“ weiterlesen

Lob der Baustelle

Meistens begegnet sie uns als Ärgernis. Sie hemmt das reibungslose Fortkommen, wenn etwa Fahrspuren verjüngt werden oder im Fall von Radwegen häufig einfach im Nichts enden. Ist sie nebenan, dann stört ihr permanenter Lärm. Zum Teil bringt sie gar die Wänden zu wackeln und raubt den Schlaf.

Die Baustelle erfährt allgemein keine große Wertschätzung. Wenn wir doch etwas an ihr finden, so höchstens die Verheißung ihres Zwecks. Etwas Gutes bietet die Baustelle erst, wenn fertig gebaut ist und die Presslufthämmer und Planierraupen abgezogen sind. Aber um die Baustelle wirklich in diesem Sinne als Träger einer Verbesserung zu erleben und als solche zu begrüßen zu können, fehlt uns heute wohl eine gute Portion des Fortschrittsoptimismus, der den Staub der Baustelle mythisch zum Goldstaub kommender Zeiten aufzuladen vermöchte. Die Euphorie, die etwa den Bau der A40 im Ruhrgebiet ab Ende der 1950er Jahre begleitete, wirkt darum inzwischen weitgehend befremdlich.

„Lob der Baustelle“ weiterlesen

Wissenschaft jenseits von Eindeutigkeits- und Uneindeutigkeitserwartungen

Vorletztes Jahr habe ich in einem Blog-Post auf die Eindeutigkeits- und Uneindeutigkeitserwartungen hingewiesen, denen sich Wissenschaft von Seiten politischer Akteur*innen ausgesetzt sieht. So soll Wissenschaft zum Teil die Legitimation für bereits gefasste politischen Entscheidungen liefern und also möglichst genau bestätigen, was man eh schon denkt. Dagegen verwehrt sich Wissenschaft häufig mit Verweis auf ihre Prozessualität, die vermeintlich Selbstverständliches stets neu hinterfragt, die auf einem fortwährenden Diskurs anstelle von definitiven Positionen beruht. Aber, im Kontext der Klimapolitik muss sich Wissenschaft nicht nur mit überzogenen und instrumentellen Eindeutigkeitsansprüchen auseinandersetzen, sondern auch mit Uneindeutigkeitsansprüchen: dann nämlich, wenn Verbindlichkeiten wissenschaftlichen Wissens völlig zerredet werden soll. Wenn es keine hundertprozentige Einigkeit unter Wissenschaftler*innen gibt, dann ist das mit dem Klimawandel ja eh alles unsicher und man muss eigentlich gar nicht erst drauf reagieren, so scheint hier manchmal das Denken zu sein. Endsprechende Klimaskeptiker*innen erwarten dann ihrerseits, dass Wissenschaft für ihre Zwecke hinreichend uneindeutig ist – und wo das nicht der Fall ist, wird auch schon mal durch Übertreibung, Verzerrung, Erfindung nachgeholfen. Insgeamt konstatiert Peter Wiengart (2021: 30):

„Je unsicherer (unabgeschlossener) wissenschaftliches Wissen ist, desto leichter kann es von Politikern nach ihren jeweiligen Überzeugungen und Interessen strategisch interpretiert und argumentativ eingesetzt werden.“

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist wohl immer noch Kristina Schröders lapidare Erwiederung auf den Hinweis, dass die Wissenschaftler*innen, auf die sie sich berief, mit der „Deutschenfeindlichkeit“, von der sie gesprochen hatte, nichts zu schaffen haben wollten: „So ist das in der Wissenschaft. Jeder zieht seine eigenen Schlussfolgerungen.“

„Wissenschaft jenseits von Eindeutigkeits- und Uneindeutigkeitserwartungen“ weiterlesen

Spazieren durch die halbierte Moderne: Über das vergessene Potential moderner Stadtplanung für die postautomobile Stadt

Verkehrspolitisch gilt die modernistische Stadtplanung heute wohl weitgehend als Graus. Verbunden wird sie insbesondere mit dem Ziel einer „autogerechten Stadt“ – unter deren Räder so einiges gekommen ist. Aber, trifft es die richtigen, wenn man den Modernismus für unsere mit Autos zugestellten und mit Riesenstraßen durchschnittenen Städte, kurz: für die Unterordnung aller Mobilitätsformen unter die Automobilität, verantwortlich macht? Mir scheint es, dass der Zustand der Auto-Stadt, den man heute zu überwinden wünscht, einem „halbiertem Modernismus“ geschuldet ist, der sich von der Entwicklung der Automobilität hat treiben lassen, und gerade nicht von den Verkehrsvisionen modernistischer Architekt*innen und Planer*innen, die versucht haben, dieser gegenüber eine Gestaltungs­macht zu gewinnen. Gerade aus dem Überschuss architektonischer Imagination des Modernismus ließe sich heute noch manche Irritation und Anregung für die Gestaltung des Raums in der post-automobilen Stadt gewinnen.

„Spazieren durch die halbierte Moderne: Über das vergessene Potential moderner Stadtplanung für die postautomobile Stadt“ weiterlesen

Das Gespenst der „Infektionstreiber“ und der diskursive Kampf um die Verteilung der Pandemielasten

(Eine erweiterte Version dieses Beitrags ist der DiscourseNet Collaborative Working Paper Series unter dem Titel: ‚Infektionstreiber‘ im Corona-Diskurs: Der diskursive Kampf um die Lasten der Pandemiebekämpfung erschienen.)

„Infektionstreiber“ hat sich im letzten halben Jahr zu einen beliebten Begriff im Corona-Diskurs entwickelt. In einer jüngsten Diskussion ist mir aufgefallen, dass ich diesen Begriff eigentlich immer nur negierend kenne: dies und jenes sei kein Infektionstreiber. Dies kennt man wohl insbesondere aus der Diskussion um Schulschließungen und Präsenzunterricht, aber auch von der Diskussion um die Schließung von Restaurants im November. Ist das aber nur ein subjektiver Eindruck, oder sind die Infektionstreiber tatsächlich lediglich Gespenster, die den Diskurs als Spuren durchziehen, ohne je manifest und greifbar zu werden? Diese Frage habe ich als Anlass für eine Mini-Diskursanalyse mit Twitter-Daten genommen.

„Das Gespenst der „Infektionstreiber“ und der diskursive Kampf um die Verteilung der Pandemielasten“ weiterlesen

Trump, Präsidentialismus und die Einheitsfiktion des Volkes – oder: Auf zu einer Repräsentation der Vielheit

In Der achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte verweist Karl Marx ausgehend von der Verfassung der zweiten französischen Republik vom 4. November 1848 auf die Widersprüche einer präsidialen Republik. Diese sieht er unter anderem darin, dass der Präsident zugleich eine Art Nachfolger des Königs ist, als auch institutionell in Schach gehalten werden soll – ein König auf Zeit, nicht von Gnaden Gottes, sondern des Volkes (qua Direktwahl), und neben ein wenigstens gleichgestelltes Parlament gestellt.

„Trump, Präsidentialismus und die Einheitsfiktion des Volkes – oder: Auf zu einer Repräsentation der Vielheit“ weiterlesen

„Die Ängstlichen“ – Angst und stochastischer Selbsttechnik

Lehnt man im Kontext der Corona-Pandemie bestimmte Handlungen ab, besteht man etwa auf dem Tragen einer Maske in einer kleineren Gruppe etc., so wird dies schnell als Folge eines subjektiven und emotionalen Zustandes gedeutet – man sei verunsichert und ängstlich, reagiert deshalb über, so die Annahme. Elizabeth Stokoe hat in diesem Zusammenhang in einer kleinen Reihe von Tweets vorgeschlagen, die „Ängstlichen“ als eine Art membership category zu fassen. Als Mitgliedskategoriesierungen bezeichnet die Konversationsanalyse – sehr grob gesprochen – Einordnungen von Menschen in Kollektivbezeichungen, die mit Vorstellungen darüber einhergehen, wie diese Menschen sind, wie sie sich Verhalten und wie sie zu Menschen, die mit anderen Kategorien bezeichnet werden, in Beziehung stehen. Mit den „Ängstlichen“, so scheint es, werden Handlungen in einem Typ von Menschen zusammengefasst, und erscheinen damit sogleich als irrational und nahezu pathologisch (https://twitter.com/LizStokoe/status/1299122381345169409). Aber ängstlich zu sein, muss nicht nur eine Fremdzuschreibung sein. Man kann sich sogar damit, zu den »Ängstlichen« zu gehören, für seine störende Insistenz auf Regeln ›entschuldigen‹. Für seine Ängste kann man ja nichts! Gerade diese Verwendung verweist darauf, dass es hier nicht bloß um individuelle Zuschreibungen handelt, sondern in gewisser Weise um einen objektivierten Typen, mit dem wir durch bloße Erwähnung bestimmte Deutungen unserer Motive und unseres Handelns aufrufen und Erwartungen aushandeln aushandeln können.

„„Die Ängstlichen“ – Angst und stochastischer Selbsttechnik“ weiterlesen

Architektur als Exzess

Unternehmensarchitektur wird heute wie selbstverständlich vor allem unter einem Paradigma der Rationalität und Effizienz betrachtet. Alles wird hier zweckrational ausgerichtet, vom Standort zur Innenausstattung. Gerade im »Dispositiv der Kreativität« (Reckwitz) werden dabei auch den ästhetischen Qualitäten der Arbeitsräume produktive Effekte zugeschrieben. So scheint es klar, dass die grellen Farben bei Google ein subtiler Mechanismus der Steigerung von Produktivität der Mitarbeiter sein müssen. Dazu passend konstatiert die »Farbergonomie« auf Grundlage der »Farb-Erregungs-Hypthese«, dass grelle Farben stimulierend wirken – und so etwa Innovation und Kreativität unterstützt. Dementsprechend ersetzen »opulent-prunkvolle Dessins« den ästhetischen Minimalismus der Moderne (Schlegl 2005: 225 ff.).

Erweiterung des Google Headquaters 2.0. Zürich, Architekt*innen: Züst Gübeli Gambetti, © google.
„Architektur als Exzess“ weiterlesen

Wer „wuppt“ hier eigentlich was? – Eine kleine Tweetanalyse

„Gewuppt“ wird in den letzten Wochen so einiges. Die Restriktionen und Veränderungen durch die „Coronakrise“ und die verdoppelte Belastung durch den Wegfall von Beschulung und Betreuung der Kinder stellen insbesondere Familien vor eine große Herausforderung. Dabei sind es häufig Frauen, an denen die Mehrbelastung hängen bleibt. Es wundert also nicht, dass man gerade in letzter Zeit davon hört und liest, was „Eltern“ oder „Mütter“ alles „wuppen“. Ist aber nicht nur der häufig mit diesem Wort beschriebene Sachverhalt ein Problem, sondern auch die Beschreibung durch das Wort selbst? Diesen Aspekt hat Christina Hölzel auf Twitter angesprochen. In einem Tweet von gestern fragt sie pointiert:

„Wuppen Männer eigentlich auch? Oder nennt man das da ‚Erfolg‘?

„Wer „wuppt“ hier eigentlich was? – Eine kleine Tweetanalyse“ weiterlesen