Jüngst hat der Suhrkamp Verlag eine Rede Theodor W. Adornos zum Antisemitismus und seiner Bekämpfung aus dem Jahr 1962 als Büchlein herausgegeben. Ähnlich war schon 2019 ein Vortrag zu „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ als Einzeltext herausgegeben worden. Es liegt nahe, dass diese kleinen Auskoppelungen von ohnehin verfügbaren Texten zu aktuellen Anlässen eine allgemeinere Publikationsstrategie sind und weitere Texte in ähnlicher Weise folgen werden. Und diese Publikationsstrategie scheint durchaus erfolgreich zu sein, weil sowohl 2019 als auch aktuell den Texten eine Aufmerksamkeit in den Feuilletons zukommt, die sonst unwahrscheinlich wäre.
Als Freund kritischer Theorie freut man sich zuerst einmal über diese Aufmerksamkeit. Allerdings lässt sich zugleich daran zweifeln, ob dieses Abrufen Adornos in leicht verdaulicher Form zu einem aktuellen Thema, à la „Adorno hat da auch etwas zu gesagt!“, sowohl für ein Verständnis der aktuellen Situation als auch für ein Verständnis des Denkens Adornos besonders hilfreich ist.
Kritikpunkt ist dabei wohlgemerkt nicht, dass ein einfacher und Zugang zu Adorno mit einem aktuellen Aufhänger angestrebt wird, sondern vielmehr, dass der Wert genau dieser Texte zweifelhaft ist. Beim neuen Band „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“ ist das besonders deutlich. Dem Text ist eine Bemerkung Adornos vorangestellt, dass der Text, der zunächst in einem Tagesband als Verschriftlichung eines Vortrags entstand, keine eigenständige Berechtigung hat: „Er [der Autor – also Adorno, D.A.] kann also für das hier Gedruckte die Verantwortung nicht übernehmen und betrachtet es lediglich als Erinnerungsstütze für die, welche bei seiner Improvisation zugegen waren und welche über die behandelten Fragen selbstverständlich weiterdenken ächten auf Grund der bescheidenen Anregungen, die er ihnen übermittelte.“ (S: 10)
Auch wenn Adorno häufiger bei Verschriftlichungen seiner Vorträge damit kokettiert, dass der so entstandene Text hinter seinen Ansprüchen an Geschriebenes zurückbleibt, ist dies eine besonders scharfe Formulierung. Und auch im von Jan Philipp Reemtsma beigesteuerten Nachwort heißt es Breits am Anfang: „Insgesamt macht der Vortrag den Eindruck der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden, ohne am Ende zu einer wirklichen Pointierung zu gelangen.“ Auch wenn er dies anschließend als Ausdruck der Eigenschaften vom Gegenstand selbst entschärft: „Ich verstehe das auch als ein Zögern in der Sache. Denn im Grunde sagt Adorno denen, die ihm zuhören, die Frage der Bekämpfung des Antisemitismus sein keine, auf die es pädagogische Antworten gäbe.“ (S. 61)
Reemtsma hat vermutlich recht, wenn er den Text vor allem als „Zeitdokument“ fasst (S. 59). Nur wird man die Form, in der er im Buch serviert wird, kaum so verstehen können, dass sie den Text als Zeitdokument vorstellen will. Inhaltlich hätte es aber von Adorno wohl deutlich bessere Texte gegeben, die es sich lohnte, heute noch einmal in die Diskussion um Antisemitismus einzubringen.
Ausgehend davon, dass der Text im Rahmen des 20. Bandes der Gesammelten Schriften bereits seit 2003 bei Suhrkamp vorliegt (und das letztlich wesentlich günstiger), kann man sich noch vom Nachwort Jan Philipp Reemtsmas neue Einsichten versprechen. Diese sind allerdings sehr beschränkt. In weiten Teilen begnügt sich Reemtsma mit einer Nacherzählung des Vortrags. Wo er darüber hinaus geht, geschieht dies meistens mit Verweis auf Jean Paul Sartres Kritik des Antisemitismus, so dass der Eindruck entsteht, die interessanteren Ausführungen zum Antisemitismus ließen sich ohnehin nicht bei Adorno finden.
Bestenfalls werden die vielen Themen, die im Vortrag Adornos angerissen werden, Lust machen, diesen weiter nachzugehen und andere Texte zu lesen, die mehr vom Denken Adornos erkennen lassen, oder auch neuere Antisemitismusforschung zur Kenntnis zu nehmen. Es liegt aber auch nahe, dass der Text vor allem dazu dienen wird, sich das herauszupicken, was einem passt, und sich in den (wahren und falschen) Annahmen noch einmal bestätigt zu fühlen.
Theodor W. Adorno 2024: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute (1962), mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma, Berlin: Suhrkamp.