Permutationen der Geschichte – Anmerkungen zu Patrik Ouředníks „Europeana“

Anlässlich der Leipziger Buchmesse, bei der 2019 Tschechien Gastland war, hat der Czernin Verlag in diesem Jahr das Buch Europeana wieder aufgelegt. In dieser, zuerst im Jahr 2001 auf tschechisch erschienen, „kurzen Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert“, wie es im vom Verlag gewählten Untertitel heißt, legte der in Tschechien geborene und seit den 1980er Jahren in Frankreich lebende Schriftsteller und Übersetzer Patrik Ouředník weniger eine Conclusio über das gerade numerisch abgeschlossene Jahrhundert vor, als vielmehr dessen Rohform offenzulegen und die Unabgeschlossenheit seiner zum Teil widerstreitenden Deutungen sichtbar zu machen. Vermutlich ist es nicht zuletzt diese Offenheit des Buches, die seine anhaltende Brisanz und Produktivität gerade auch in den letzten Jahren erklärt. So ist 2018 eine Theaterfassung des Textes als Gastspiel eines Prager Theaters in Hannover aufgeführt und in diesem Jahr hat Heiner Goebbels in seiner multimedialen Inszenierung Everything that happens and could happen im Rahmen der Ruhrtriennale maßgeblich auf Ouředníks Text zurück gegriffen.

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Die (Un-)Möglichkeit der Geschichte – Anmerkungen zu Heiner Goebbels’ „Everything that happens and would happen“

„Und 1989 entwickelte ein amerikanischer Politikwissenschaftler eine Theorie über das Ende der Weltgeschichte. … Doch viele Leute wussten nichts von dieser Theorie und schrieben weiterhin Geschichte, als sei nichts passiert.“ Mit diesem Zitat aus Patrik Ouředníks Roman „Europeana“ schließt Heiner Goebbels seine im Rahmen der Ruhrtriennale am 23. August 2019 uraufgeführte Inszenierung „Everything that happend and would happen“. Dieses Zitat kann aber zugleich auch als Ausgangspunkt der installativen Performance gelten, die sich – unter Rückgriff auf den Roman Ouředníks, Bildern des Euronews Programms „No Comment“ und Bühnenelementen der Aufführung von John Cages „Europeras 1 & 2“ bei der Ruhrtriennale 2012 – mit der (Un-)Möglichkeit einer Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. Mit dem von Ouředník ausgewiesenenen „Nicht-Ende“ der Geschichte entzieht sich diese auch einer einheitlichen Geschichtsschreibung, die sich aus der rückblickenden Beschreibung von einem Ende aus und auf dieses hin darstellen ließe. Kurz: weil Geschichte weitergeht, gestritten und gekämpft wird, musste Perspektivierung des Gewesenen plural bleiben. Weil Geschichte nicht endet, bleibt sie offen und kommt ihre Beschreibung zu keinem Abschluss.

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Mythos und Geschichte

„Die mythische Geschichte als solche steht im Dienst dieses Kampfes der Struktur gegen das Ereignis. Mit ihrer Hilfe bemüht sich die Gesellschaft, die zerstörerische Wirkung der geschichtlichen Faktoren aufzuheben; durch sie wird das Geschichtliche ausgelöscht, das Ereignishafte getilgt.“

Paul Ricœur
Hermeneutik und Strukturalismus

Ironische Existenz

„Es darf zwar befremdend, aber nicht widerspruchsvoll erscheinen, wenn ich dem Zeitalter, das so hörbar und aufdringlich in das unbekümmertste Frohlocken über seine historische Bildung aufzubrechen pflegt, trotzdem eine Art von ironischem Selbstbewußtsein zuschreibe, eine darüberschwebendes Ahnen, daß hier nicht zu frohlocken sei, eine Furcht, daß es vielleicht bald mit aller Lustbarkeit der historischen Erkenntnis vorüber sein werde.“

So schreibt Nietzsche in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung (§ 8) und macht so die tiefe Modernität der ach so postmodernen Ironie sichtbar. Postmoderne Ironie braucht die moderne Verwechslung von kumulativem Wissen mit Bildung. Und wenn Nietzsche beklagt, dass die ‚historische Bildung‘, das Wissen darum, dass es einmal auf unendliche Weisen anders war, nicht in ein produktives Bewusstsein von Kontingenz – Machbarkeit – mündet, sondern in eine Gleichgültigkeit, so scheint damit das postmoderne Bewusstsein vorgreifend zielsicher getroffen:

„die Masse des Einströmenden ist so groß, das Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig, ‚zu scheußlichen Klumpen geballt‘, auf die jugendliche Seele ein, daß sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß“ (§ 7).

Ironischerweise zeigt sich hier die Postmoderne als immer schon gewesenes Element des Historizismus, gegen den sie doch so heroisch-gleichgültig ankämpft. Sie ist Defätismus vorm Mannigfaltigen.