Lob der Baustelle

Meistens begegnet sie uns als Ärgernis. Sie hemmt das reibungslose Fortkommen, wenn etwa Fahrspuren verjüngt werden oder im Fall von Radwegen häufig einfach im Nichts enden. Ist sie nebenan, dann stört ihr permanenter Lärm. Zum Teil bringt sie gar die Wänden zu wackeln und raubt den Schlaf.

Die Baustelle erfährt allgemein keine große Wertschätzung. Wenn wir doch etwas an ihr finden, so höchstens die Verheißung ihres Zwecks. Etwas Gutes bietet die Baustelle erst, wenn fertig gebaut ist und die Presslufthämmer und Planierraupen abgezogen sind. Aber um die Baustelle wirklich in diesem Sinne als Träger einer Verbesserung zu erleben und als solche zu begrüßen zu können, fehlt uns heute wohl eine gute Portion des Fortschrittsoptimismus, der den Staub der Baustelle mythisch zum Goldstaub kommender Zeiten aufzuladen vermöchte. Die Euphorie, die etwa den Bau der A40 im Ruhrgebiet ab Ende der 1950er Jahre begleitete, wirkt darum inzwischen weitgehend befremdlich.

Der Bau des Ruhrschnellwegs: Als Baustellen noch Verheißungen glänzender Zukunft waren

Zu wenig beachtet ist aber, jenseits der Zweckverheißung, die Baustelle selbst als Provisorium: als ein Raum, der permanenten Veränderungen unterliegt, der sich ständig mit neuen Praktiken verwebt und der von den verschiedenen Partizipand*innen der Baustelle wieder und wieder neu angeeignet wird. Seit gut einem Jahr habe ich so ein räumliches Experimentierfeld vor der Tür. Schienen wurden herausgerissen, Beton aufgehämmert, Löcher gebaggert und zugeschüttet. Die Führung der drei Autospuren auf der vormals fünfspurigen Straße verändert sich zum Teil im Wochentakt.

Freie Flächen werden dabei schnell von Autofahrer*innen erobert, die kollektiv Fakten aus trägen Stahl schaffen. Zunächst da, wo ehemals Parkplätze waren. Dann in den Lücken der Baustellenabsperrungen in der Mitte der Straße. Nach der „Auflösung“ dieses Mittelstreifens schließlich diagonal ausgebreitet über ehemalige Parkplätze und eine Fahrspur auf der anderen Straßenseite. Was sich hier in der kleinsten Form beobachten lässt, sind nicht nur neue Gewohnheiten, sondern die Etablierung soziale Institutionen in Rekordzeit. Während keine der Flächen jemals zum Parken freigegeben wurden, war ihr Beparken nicht nur schnell Gewohnheit und erwartbar, sondern erfuhr letztlich sogar eine implizite offizielle Anerkennung: Vor Beginn eines neuen Bauabschnitts wurden Halteverbotsschilder für den zugeparkten Teil der Baustelle aufgestellt, gültig ab eineinhalb Wochen später. Was vermutlich schlicht ein pragmatischer Versuch war, den Aufwand für das Abschleppen von über einem Dutzend Autos zu vermeiden, produziert anderseits aber eine verbindliche Legitimität für diesen Parkplatz bis zum ausgewiesenen Termin.

Spannender als diese Scharmützel von PKWs und Baggern sind aber die kleinen neuen Räume, die sich durch die Baustelle eröffnen. Eine fünfspurige Straße mit zwei Parkstreifen und knapp bemessenen Bürgersteigen stellt keinen besonders reizvollen Raum für das Verweilen dar, erst recht aber kein guten Ort für spielende Kinder. Genau ein solcher hat sich aber seit der neusten Umstrukturierung der Straße ergeben. Dabei bringt die Baustelle auch andere “soundscapes” jenseits des Baulärms mit sich. Der Klang lachender Kinder von der Straße her, hat mich heute tatsächlich zunächst irritiert, ist er doch ungewohnt. Da der Bürgersteig weggebaggert wurde, um Rohre zu erneuern, wurde kurzerhand eine Fahrspur mit Baustellenzaun abgetrennt. Sie bietet jetzt nicht nur einen komfortablen Fußgängerwegersatz, sondern einen relativ geschützten Raum, auf dem Kindern mit dem Fahrrad und Roller hin und her pesen können.

Blick aus dem Fenster auf die Baustelle.

Interessant an solchen Beobachtungen ist, dass sie uns zeigen, wie viel kleine Veränderungen der Räumlichen (An-)Ordnungen bewirken können. Und die ständigen Veränderungen der Baustelle können als quasi-experimentelles Setting tatsächlich helfen, die Wirkung einzelner Raumelemente zu verstehen, wo sonst im holistischen Raumgefüge die Isolierung von Effekten schwer fällt. Was sich verändert hat, ist hier nicht atmosphärischer Natur: der Raum an sich ist denkbar trist und sicher von seiner Erscheinung nicht einladender als vorher. Entscheidend scheinen relativ schlichte Veränderungen zu sein: die klare Abgrenzung von Autoverkehr durch längere Zäune, die Entzerrung durch die Ausweitung auf die Fahrspur, die unverstellte Fläche, all dies schafft– im wahrsten Sinne des Wortes – neue Spielräume.

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