Zukunftsnostalgie

Nostalgie ist ursprünglich eine Rückübersetzung von „Heimweh“ ins Griechische, die von Johannes Hofer in seiner Dissertation von 1688 eingeführt wurde. Im 20. Jahrhundert wurde diese räumliche Sehnsucht typischerweise in eine Zeitliche Sehnsucht nach einer (verklärten) Vergangenheit umgedeutet (Becker & Stach 2021: 9).

Interessant ist es einen Rückbezug auf die „Heimat“ zu machen, sofern sie nicht die dumpf verklärte Herkunft bezeichnet, sondern selbst „utopisch“ gefasst wird (ein weiterer Begriff, der quasi spiegelbildlich von einer räumlichen zu einer temporalen Bestimmung übergeht, hier aber eben vom „anderen“, nicht „eigenen“ Ort auf ein Noch-Nicht, auf Zukunft). Ernst Bloch hat sich (je nach Geschmack dialektisch oder paradoxal) um einen utopischen Heimatbegriff bemüht, wenn er diese als etwas beschreibt „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ (Bloch 1985 Bd. 2, S. 1628).

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The same procedure as every wave? Soziale Ungleichheit und Gesundheitsrisiken in der vierten Welle

Langsam zeichnet sich ab, dass der Abwärtstrend der Verbreitung des Corona-Virus vorbei ist. Der 7-Tage-R-Wert liegt seit Tagen um 1. Und statt jetzt mit vergleichsweise wenig Aufwand „ZeroCovid“ anzustreben, stimmt Armin Laschet mal wieder auf eine Aussitz-„Strategie“ ein und bemüht dazu die bekannte Leerformel vom „mit dem Virus leben“ – was ja heißt, das Sterben mit dem Virus nicht ganz so energisch zu bekämpfen. Und das, obwohl wissenschaftlich klar ist, dass die Impfquote keineswegs so ist, dass nichts mehr zu befürchten wäre (siehe auch England). Man setzt also mal wieder auf die ineffizienteste Entscheidung. Denn an dem Punkt, an dem man das Aussitzen nicht mehr durchhalten kann, ist das Bremsen dann extrem teuer. Das muss man keinem mehr erklären. Ignoriert wird es trotzdem.

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Arbeitsarchitektur zwischen Einheitsprojektion und gesellschaftlichem Konflikt

Die Vorstellung einer Architektur als Ausdruck von Gesellschaft steht vor dem Problem, dass Gesellschaft keine Einheit ist. Darin sind sich zumindest kritische Soziologische Theorien einig, ob Marx oder Bourdieu, die Konflikte und Kämpfe als wesentlichen Moment der gesellschaftlichen Konstitution sehen (mit Verweis auf Bourdieu Dieluweit 2019, 14). Weiter kommt man, wenn man den Blick umkehrt. Architektur projiziert Gesellschaft als einheitlich, indem sie Partikulares als universale Repräsentation des Gesellschaftlichen erscheinen lässt und als solches auf Gesellschaft zurückführt (eben auf die Verweist die Rede von der imaginären Konstitution, die Heike Delitz (2009) für die Architektursoziologie von Cornelius Castoriadis (1990) aufgreift).

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Zur Kritik der Expertokratiekritik

In der Kritik an Expertokratie wird eine Seite interessanterweise oft vergessen: die der Wissenschaft selbst. Erst, wenn man aber einen genaueren Blick auf deren Strukturen und Praktiken richtet, wird es möglich, der populistischen Vorstellung einer Fremdbestimmung durch das „Wissen“, das implizit als Ausdruck einer dem Volk entgegenstehenden heteronomen Elite gedeutet wird, nicht nur quasi wissensfreie Sphären von Werturteilen oder Antagonismen entgegenhalten – die vermeintlich reine Politik –, sondern eine Demokratisierung der Wissensproduktion. Diese kann sich auf unterschiedliche Ebenen erstrecken: die Demokratisierung wissenschaftlicher Institutionen, die Zurückdrängung kommerzieller Interessen, die Ausweitung der aktiven und passiven Teilhabe an Forschung …

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Die (Un-)Möglichkeit des Wohnens. Das Interieur als Ideologie und Utopie

Im vierten Abschnitt seiner Exposees zum Passagen-Projekt und den korrespondierenden Notizen wendet sich Walter Benjamin (1983a, S. 52 f.) der Frage des Wohnens zu. Der bürgerliche Wohnraum um die Mitte des 19. Jahrhunderts gilt ihm vor allem als Kompensation für die entfremdete und unpersönliche Welt, der durchrationalisierten und fremdbestimmten Arbeitsstätten und der anonymisierten und blasierten großstädtischen Öffentlichkeit, wie sie schon Georg Simmel (2009 zuerst 1903) beschrieben hatte. Im Zentrum dieser Sphäre der Privatheit stand das Interieur. In ihm wurden die Waren-Dinge zu Symbol-Dingen: sie erfuhren eine Aufladung mit spezifischer Bedeutung. Ästhetisch und haptisch wird zudem den rohen, kalten und glatten Flächen der Räume der Nützlichkeit das Weiche, das Überzogene und Behangene entgegengehalten, in die sich die Spuren der Bewohner*innen einschrieben. Mit Benjamin kann man das Wohnen dieser Zeit im Wesentlichen als ideologisch fassen: die ästhetische und symbolische Gegenwelt ankerte im Bestreben des Bürgertums, „sich für die Spurlosigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen“, wie Benjamin an einer verwandten Stelle seines Baudelaire-Buches bemerkt (Benjamin 2011, S. 754).

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Lob der Baustelle

Meistens begegnet sie uns als Ärgernis. Sie hemmt das reibungslose Fortkommen, wenn etwa Fahrspuren verjüngt werden oder im Fall von Radwegen häufig einfach im Nichts enden. Ist sie nebenan, dann stört ihr permanenter Lärm. Zum Teil bringt sie gar die Wänden zu wackeln und raubt den Schlaf.

Die Baustelle erfährt allgemein keine große Wertschätzung. Wenn wir doch etwas an ihr finden, so höchstens die Verheißung ihres Zwecks. Etwas Gutes bietet die Baustelle erst, wenn fertig gebaut ist und die Presslufthämmer und Planierraupen abgezogen sind. Aber um die Baustelle wirklich in diesem Sinne als Träger einer Verbesserung zu erleben und als solche zu begrüßen zu können, fehlt uns heute wohl eine gute Portion des Fortschrittsoptimismus, der den Staub der Baustelle mythisch zum Goldstaub kommender Zeiten aufzuladen vermöchte. Die Euphorie, die etwa den Bau der A40 im Ruhrgebiet ab Ende der 1950er Jahre begleitete, wirkt darum inzwischen weitgehend befremdlich.

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Wissenschaft jenseits von Eindeutigkeits- und Uneindeutigkeitserwartungen

Vorletztes Jahr habe ich in einem Blog-Post auf die Eindeutigkeits- und Uneindeutigkeitserwartungen hingewiesen, denen sich Wissenschaft von Seiten politischer Akteur*innen ausgesetzt sieht. So soll Wissenschaft zum Teil die Legitimation für bereits gefasste politischen Entscheidungen liefern und also möglichst genau bestätigen, was man eh schon denkt. Dagegen verwehrt sich Wissenschaft häufig mit Verweis auf ihre Prozessualität, die vermeintlich Selbstverständliches stets neu hinterfragt, die auf einem fortwährenden Diskurs anstelle von definitiven Positionen beruht. Aber, im Kontext der Klimapolitik muss sich Wissenschaft nicht nur mit überzogenen und instrumentellen Eindeutigkeitsansprüchen auseinandersetzen, sondern auch mit Uneindeutigkeitsansprüchen: dann nämlich, wenn Verbindlichkeiten wissenschaftlichen Wissens völlig zerredet werden soll. Wenn es keine hundertprozentige Einigkeit unter Wissenschaftler*innen gibt, dann ist das mit dem Klimawandel ja eh alles unsicher und man muss eigentlich gar nicht erst drauf reagieren, so scheint hier manchmal das Denken zu sein. Endsprechende Klimaskeptiker*innen erwarten dann ihrerseits, dass Wissenschaft für ihre Zwecke hinreichend uneindeutig ist – und wo das nicht der Fall ist, wird auch schon mal durch Übertreibung, Verzerrung, Erfindung nachgeholfen. Insgeamt konstatiert Peter Wiengart (2021: 30):

„Je unsicherer (unabgeschlossener) wissenschaftliches Wissen ist, desto leichter kann es von Politikern nach ihren jeweiligen Überzeugungen und Interessen strategisch interpretiert und argumentativ eingesetzt werden.“

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist wohl immer noch Kristina Schröders lapidare Erwiederung auf den Hinweis, dass die Wissenschaftler*innen, auf die sie sich berief, mit der „Deutschenfeindlichkeit“, von der sie gesprochen hatte, nichts zu schaffen haben wollten: „So ist das in der Wissenschaft. Jeder zieht seine eigenen Schlussfolgerungen.“

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Spazieren durch die halbierte Moderne: Über das vergessene Potential moderner Stadtplanung für die postautomobile Stadt

Verkehrspolitisch gilt die modernistische Stadtplanung heute wohl weitgehend als Graus. Verbunden wird sie insbesondere mit dem Ziel einer „autogerechten Stadt“ – unter deren Räder so einiges gekommen ist. Aber, trifft es die richtigen, wenn man den Modernismus für unsere mit Autos zugestellten und mit Riesenstraßen durchschnittenen Städte, kurz: für die Unterordnung aller Mobilitätsformen unter die Automobilität, verantwortlich macht? Mir scheint es, dass der Zustand der Auto-Stadt, den man heute zu überwinden wünscht, einem „halbiertem Modernismus“ geschuldet ist, der sich von der Entwicklung der Automobilität hat treiben lassen, und gerade nicht von den Verkehrsvisionen modernistischer Architekt*innen und Planer*innen, die versucht haben, dieser gegenüber eine Gestaltungs­macht zu gewinnen. Gerade aus dem Überschuss architektonischer Imagination des Modernismus ließe sich heute noch manche Irritation und Anregung für die Gestaltung des Raums in der post-automobilen Stadt gewinnen.

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Das Gespenst der „Infektionstreiber“ und der diskursive Kampf um die Verteilung der Pandemielasten

(Eine erweiterte Version dieses Beitrags ist der DiscourseNet Collaborative Working Paper Series unter dem Titel: ‚Infektionstreiber‘ im Corona-Diskurs: Der diskursive Kampf um die Lasten der Pandemiebekämpfung erschienen.)

„Infektionstreiber“ hat sich im letzten halben Jahr zu einen beliebten Begriff im Corona-Diskurs entwickelt. In einer jüngsten Diskussion ist mir aufgefallen, dass ich diesen Begriff eigentlich immer nur negierend kenne: dies und jenes sei kein Infektionstreiber. Dies kennt man wohl insbesondere aus der Diskussion um Schulschließungen und Präsenzunterricht, aber auch von der Diskussion um die Schließung von Restaurants im November. Ist das aber nur ein subjektiver Eindruck, oder sind die Infektionstreiber tatsächlich lediglich Gespenster, die den Diskurs als Spuren durchziehen, ohne je manifest und greifbar zu werden? Diese Frage habe ich als Anlass für eine Mini-Diskursanalyse mit Twitter-Daten genommen.

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Trump, Präsidentialismus und die Einheitsfiktion des Volkes – oder: Auf zu einer Repräsentation der Vielheit

In Der achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte verweist Karl Marx ausgehend von der Verfassung der zweiten französischen Republik vom 4. November 1848 auf die Widersprüche einer präsidialen Republik. Diese sieht er unter anderem darin, dass der Präsident zugleich eine Art Nachfolger des Königs ist, als auch institutionell in Schach gehalten werden soll – ein König auf Zeit, nicht von Gnaden Gottes, sondern des Volkes (qua Direktwahl), und neben ein wenigstens gleichgestelltes Parlament gestellt.

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