Das Gespenst der „Infektionstreiber“ und der diskursive Kampf um die Verteilung der Pandemielasten

(Eine erweiterte Version dieses Beitrags ist der DiscourseNet Collaborative Working Paper Series unter dem Titel: ‚Infektionstreiber‘ im Corona-Diskurs: Der diskursive Kampf um die Lasten der Pandemiebekämpfung erschienen.)

„Infektionstreiber“ hat sich im letzten halben Jahr zu einen beliebten Begriff im Corona-Diskurs entwickelt. In einer jüngsten Diskussion ist mir aufgefallen, dass ich diesen Begriff eigentlich immer nur negierend kenne: dies und jenes sei kein Infektionstreiber. Dies kennt man wohl insbesondere aus der Diskussion um Schulschließungen und Präsenzunterricht, aber auch von der Diskussion um die Schließung von Restaurants im November. Ist das aber nur ein subjektiver Eindruck, oder sind die Infektionstreiber tatsächlich lediglich Gespenster, die den Diskurs als Spuren durchziehen, ohne je manifest und greifbar zu werden? Diese Frage habe ich als Anlass für eine Mini-Diskursanalyse mit Twitter-Daten genommen.

Für ein Projekt zum Datenschutz im Corona-Diskurs habe ich, basierend auf den COVID-19-TweetIDs, ein größeren Korpus mit Corona-bezogenen Tweets im Zeitraum von Januar bis Mitte Juni 2020 erstellt. In einem ersten Schritt habe ich geschaut, ob und wie das Wort „Infektionstreiber“ hier vorkommt. Dabei findet sich zunächst eine Bestätigung für das spontane Gefühl, dass „Infektionstreiber“ nicht positiv benannt werden, sondern eher verwendet werden, um soziale Bereiche von einem Beitrag zum Infektionsgeschehen freizusprechen.

Eine einfache Konkordanz (eine Auflistung des Begriffs in seinem unmittelbaren Gebrauchskontext) zeigt, dass von zehn Nennungen neun negierend sind („keine“, „nicht als“). Die einzige Ausnahme benennt aber auch ihrerseits keinen Bereich als Infektionstreiber, sondern fragt, ob Schulen und Kitas Infektionstreiber seien. Dabei wird auf einen Artikel der Welt verwiesen, den diese Frage als Titel ziert. Dieser konstatiert zunächst: „besonders Kindergärten und Grundschulen galten bisher als Infektionstreiber“ – um diese anonyme Stimme dann anschließend zu hinterfragen (Heinen 2020). Interessant ist, dass alle zehn Nennungen des Begriffs aus der ersten Hälfte des Junis stammen, also den letzten 15 im Korpus erfassten Tage.

Dies hat mich angeregt auch noch mal auf den aktuellen Gebrauch zu schauen. Mit Hilfe des Tools twarc habe ich die Tweets der letzten sieben Tage (Stand 7. Januar 2020) gesammelt, in denen das Wort „Infektionstreiber“ vorkommt. Daraus ergibt sich ein kleiner Korpus von 242 Tweets. Allein der größere Umfang lässt etwas mehr Varianz erwarten. Die .jsonl-Datein wurden mittels eines eigenen Skripts in eine reine Textdatei geschrieben, die nur die Tweet-ID und den Tweet-Text enthält. Anschließend habe ich die Tweet-Texte mithilfe des Korpusanalyse-Programm AntConc untersucht.

Thematisch zeigt sich, dass trotz der Ausweitung der Begriffsverwendung (etwa in Bezug auf Gastronomie, Freizeit und die Arbeitswelt), Schulen und Kinder weiter im Fokus der Diskussion um die „Infektionstreiber“ steht. Dies wird etwa in einer einfachen Wortwolke mit den häufigsten Begriffen im Korpus deutlich.

Häufigste Wörter in den Tweets zu „Infektionstreibern“. Erstellt mit der Wordcloud-Tool von twarc, bereinigt um Retweets und Stopwords (eigen Darstellung).

Keine Infektionstreiber nirgendwo

Zunächst findet sich aber auch hier bestätigt, dass „Infektionstreiber“ weitgehend negierend verwendet wird. Schaut man sich N-Gramme (also regelmäßig wiederkehrende Wortfolgen) nach ihrer Häufigkeit an, so steht „keine Infektionstreiber“ mit 77 Nennungen an unangefochtener Spitze (zu ergänzen um sieben Nennungen von „kein Infektionstreiber“). Ein kleine Auswahl:

„Es ist falsch, Grundschulen zu schließen. […] Distanzunterricht funktioniert mit kleinen Kindern nicht, sind sie laut Studien auch keine Infektionstreiber.“

„Die #Kinder wurden mit Dauerlüften & #Kniebeugen in den letzten Wochen drangsaliert – zum Dank sperrt man sie jetzt vom #Unterricht aus. Dabei ist längst erwiesen, dass #Schulen ebenso wie #Kitas keine Infektionstreiber sind.“

„86% der Toten sind aus Altenheimen zu beklagen. Jede Studie die Schüler mit eingeschlossen hat, hat bewiesen, dass Schulen keine Infektionstreiber sind. Was soll also diese verlogene Propaganda,bekommen Sie bezahlt? sind Sie ein dummes Arschloch?“

Neben Bildungseinrichtungen und Kindern, die in der Diskussion das beliebteste Thema sind, werden aber auch viele andere Bereiche davon freigesprochen, Infektionstreiber zu sein:

„Die Arbeitsstätten sind keine Infektionstreiber

„Die Fernzüge der Deutschenbahn sind KEINE Infektionstreiber

„Lügen, Lügen Lügen…. Studien beweisen, Schulen sind Keine Infektionstreiber. Einzelhandel, Hotels, Gaststätten waren es auch nicht!“

„In der Inkubationszeit nach der Demo gab es keinerlei Auffälligkeiten bei den Infiziertenzahlen. Demos scheinen übrigens weltweit keine Infektionstreiber zu sein.“

Polyphonieanalytisch verweist die Negation in „keine Infektionstreiber“ zunächst auf eine vorgängige oppositionelle Sprecher*innenposition, die etwa die Aussage, Schulen seien „Infektionstreiber“ positiv behauptet. Interessant ist, dass diese Diskursposition zwar implizit allgegenwärtig aufgerufen wird, aber letztlich im Diskurs selbst weitgehend abwesend ist. Man kann in Bezug auf den aktuellen Korpus natürlich einwenden, dass die positive Behauptung außerhalb des Erhebungszeitraums liegen kann, so dass sich in den beobachteten Texten nur die Reaktionen ohne ihre Referenz beobachten lassen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass hier tatsächlich eher eine imaginäre Position konstruiert wird als das tatsächliche Sprecher*innen zurückgewiesen würden. Etwa, dass das Auftauchen des Begriffs im Juni von Anfang an nicht zur Ausweisung von Bereichen diente, die das Infektionsgeschehen in besonderen Maße befeuern, sondern gerade dazu, Bereiche davon freizusprechen. Wer diese zurückgewiesene Behauptung „XY ist Infektionstreiber“ vertritt, bleibt jedenfalls, wie im Welt-Artikel, anonym.

Mit der Behauptung, XYZ sei kein Infektionstreiber wird letztlich versucht eine Ausnahme zu etablieren. Und das paradoxerweise gerade damit, dass Kinder, Schule, Arbeitsstätten, Gastronomie etc. keine Ausnahmen sind. Zurückgewiesen wird ja explizit erst einmal nicht, dass sich auch hier Menschen anstecken, sondern nur, dass sie es nicht mehr als in anderen Bereichen, das heißt in außergewöhnlichem Umfang, tun. Dies ist sicherlich an sich kein besonders gutes Argument, aber das ist nicht so sehr Gegenstand dieser kleinen Untersuchung.

Nicht keine Infektionstreiber – Problematisierungen und Reflexivität im Diskurs

Anders als in den Okkurrenzen aus dem Juni 2020 darf die Tatsache, dass „Infektionstreiber“ vor allem in negierender Fügung auftritt, jedoch nicht so verstanden werden, dass diese Geste der Relativierung und Exemtion unwidersprochen bleibt. Im Gegenteil: Viele Äußerungen problematisieren die Behauptung, dass dies und jenes „keine Infektionstreiber“ seien. Das tun sie aber bezeichnenderweise nicht einfach, indem selbst behauptet wird, dass ein Bereich Infektionstreiber sei, sondern eher in einer Zurückweisung der Zurückweisung.

Zum Beispiel wird der Gebrauch selbst objektiviert und so wiederum die Aussage (die sich auf einen gespenstischen Gegensprecher richtet) zum Gegenstand weiterer Sprecher*innenkonstruktionen. So heißt es in einem Tweet:

„Das mit ‚kein Infektionstreiber‘ ist doch kommunikatives Schattenboxen, solange nicht mal eine Definition des Treibers geliefert wird.“

Die Anführungszeichen sind hier metapragmatische Marker, mit denen ausgewiesen wird, dass die Äußerung sich auf die Sprachverwendung selbst richtet. (Diese Aspekte des Diskurses sind insbesondere darum von Bedeutung, weil es klar macht, dass der Diskurs nicht einfach eine semiotische Makrostruktur ist, die sich sozusagen hinter dem Rücken der Sprecher*innen durchsetzt. Vielmehr ist der Diskurs durchzogen von Rekursivitäten und Reflexivitäten, zum Teil sogar von Laien-Diskursanalysen, die ein allzu hierarchisches Verhältnis zwischen Forscher*innen und Beforschten ausschließen.)

Interessant ist, dass die negative Wendung selbst da vorkommt, wo im Endeffekt einem Bereich tatsächlich zuschrieben wird, Infektionstreiber zu sein.

„Die Schule SOLL kein Infektionstreiber sein. Ist sie aber.“

Auch hier treten Sprecher*innen auf, die entweder vertreten, dass die Schule kein Infektionstreiber ist, oder aber sich dieses herbeiwünschen – beide Interpretationen sind ausgehend vom „SOLL“ möglich. Diese werden dann jedoch explizit zurückgewiesen („aber“).

All dies verweist darauf, dass Referenzpunkt des Diskurses nicht die tatsächliche Zuschreibung „Infektionstreiber“ zu sein, sondern die Ausnahme eines Bereichs vom Beitrag zum Infektionsgeschehen.

Finden sich doch noch Infektionstreiber?

Die nächst-häufige Wortfolgen nach „kein(e) Infektionstreiber“ sind (mit deutlichem Abstand): „als Infektionstreiber“ (17) und „die Infektionstreiber“ (12), Schulen Infektionstreiber“ (11), „ sind Infektionstreiber“ (10). Auch hier finden sich wieder ein negierender Gebrauch. So heißt es etwa:

„Bis heute ist auch weder Gastro, noch Freizeit, noch Einzelhandel als Infektionstreiber aufgefallen. …“

„Weder Einzelhandel, Schulen noch Urlaube waren oder sind Infektionstreiber. Informieren, dann schreiben…..“

Daneben gibt es hier aber auch Verwendungen, die unmittelbar Zuschreibungen als Infektionstreiber vollziehen.

„Auch Kinder unter 14 sind Infektionstreiber. Durch diese harten Zeiten kommen wir nur mit konsequenten Maßnahmen und ohne Ausnahmen.“

Interessant ist hier, dass genau das Reklamieren von „Ausnahmen“, das mittels des „keine Infektionstreiber“ üblicherweise vollzogen wird, hier in Frage gestellt wird. Anders als es der Begriff der „Infektionstreiber“ als herausgehobene Verantwortliche für das Infektionsgeschehen nahelegt, wird hier eher Normalität reklamiert: „Auch Kinder … sind Infektionstreiber.“ Solche Formulierungen weisen darauf hin, dass auch die (seltenen) expliziten Zuschreibungen davon Infektionstreiber zu sein, sich häufig zu dem Exzeptionalismus von „keine Infektionstreiber“ verhalten.

Zuletzt möchte ich noch kurz auf die Formulierung „die Infektionstreiber“ eingehen. Zunächst erscheint der bestimmte Artikel inhaltlich relativ uninteressant. Häufig wird er aus der Analyse von N-Grammen herausgenommen. In der Diskussion um Infektionstreiber scheint der unterschied von bestimmten und unbestimmten Artikel jedoch durchaus relevant. In gewisser Weise wird hier noch eine Steigerung vorgenommen. Während Infektionstreiber alle zu sein scheinen, die überdurchschnittlich zur Verbreitung des Virus beitragen, stellen „die“ Infektionstreiber zum Teil noch einmal deren Spitze dar. Hiermit wird sozusagen eine Gruppe markiert, die für sich allein im Wesentlichen verantwortlich für die Verbreitung des Virus sein soll. Damit wird die Entlastung für alle anderen, aber um so leichter.

„In dieser Situation über einen Inzidenzwert von „25“ zu diskutieren ist absurd.
Bekommen Sie lieber die Infektionstreiber (Hotspots) in den Griff.“

Angesetzt werden soll also nicht bei der Verbreitung der Vielen, sondern bei den wenigen Ausreißern. Hier sind wir dann bei einer positiven Benennung, die sich tatsächlich weitgehend vom negierenden Gebrauch loslöst – wenn auch hier seinerseits eine Entlastung anderer sozialer Bereiche eine Rolle spielt.

„Wie seelisch grausam kann es noch werden?! Wohlwissend, dass Kitas nicht die Infektionstreiber sind“

„Die Schneespreader sind die Infektionstreiber

„Warum werden eigentlich Restaurants, Schulen, Universitäten… geschlossen, wenn die Infektionstreiber (Anzahl/ Ausbruch) ganz woanders sind“

„Infektionstreiber“ als device diskursiver Verteilungskämpfe

Insgesamt scheint es bei der Diskussion um Infektionstreiber pragmatisch vor allem um Verteilungskämpfe der Lasten der Pandemiebekämpfung zu gehen. Dabei scheint jede*r irgendwie auf den anderen zu zeigen. Gefordert werden entsprechend Öffnungen und Lockerungen für den eigenen Bereich, der „kaum“ Infektionstreiber ist und es auch „nie“ war – während damit alle anderen Bereiche zu potentiellen Infektionstreibern werden.

„Es geht nicht um #Spaltung, sondern um die existenziell notwendige #Öffnungsperspektive mit den bewährten #AHA-Regeln, da das #Gastgewerbe nachweislich kaum ist!“

„Das Schließen der Schule war kein Fehler, sondern notwendig. Jetzt muss man an die ran, die sich nicht an die Regeln halten und die findet man im privaten Bereich. Gastro und Handel waren nie Infektionstreiber.“

Wenn hier der „private Bereich“ maßgeblich in die Verantwortung genommen wird, dann findet sich im Diskurs natürlich auch genau das Gegenteil:

„Nunja, die vielzitierten Coronapartys waren kaum belegbar – ganz im Gegensatz zu schulischen Infektionen. Wenn aber die Infektionstreiber eher Schulen, Malls etc. sind, ist es absolut überzogen, das Privatleben so sehr einzuschränken.“

Während es zumeist reicht, darauf zu verweisen, dass ein bestimmter Bereich nicht als Infektionstreiber zu betrachten ist, wird also zuweilen – wenn auch sehr selten – ein Bereich explizit als „der“ Infektionstreiber markiert und damit letztlich implizit alle anderen sozialen Bereiche von der Verantwortung für die Pandemiebekämpfung entlastet.

Schluss

Ich hatte zunächst mit dem Gefühl gestartet, dass „Infektionstreiber“ eigentlich immer nur in der Negation vorkommen. Infektionstreiber wären sozusagen ein „Gespenst“, um das sich die ganze Aufregung dreht, aber das stets flüchtig ist, sich niemals dingfest machen lässt. Ausgehend von meinem kleinen Twitter-Korpus bestätigt sich zumindest, dass die Verwendung dieses Begriffs wesentlich von einer Abwehrgeste geprägt ist. Es gibt aber auch durchaus positive Verwendungen des Begriffs. Bei diesen zeigt sich aber häufig gerade, dass auch diese noch auf die diskursive Geste reagieren, diesen oder jeden Bereich von der Verantwortung für das Infektionsgeschehen auszunehmen, anstatt eine einseitige und ausschließliche Verantwortung für die Verbreitung zuzuschreiben – wie es im Begriff des Infektionstreibers zunächst anklingt und wie es in den negativen Verwendungen auch zurückgewiesen wird. Eine zuspitzende Verwendung findet sich jedoch in der Wendung „die Infektionstreiber“, die einerseits eine besondere und sozusagen exklusive Verantwortung für die Pandemieentwicklung zuschreibt, damit aber auch das Feld, das von dieser Verantwortung entlastet wird, ausweitet.

Pragmatisch scheint es in den Zuschreibungen, ob etwas Infektionstreiber sei oder gerade nicht, weniger um eine sachliche Klärung zu gehen, wie der Verbreitung des Corona-Virus möglichst effektiv begegnet werden kann, als vielmehr um gesellschaftliche und durchaus taktische Kämpfe um die Verteilung der Lasten der Pandemiebekämpfung. Auch wenn immer wieder (und stets äußert vage) auf „Studien“ verwiesen wird, die doch dies oder jenes bewiesen, so entsteht im Gewimmel der Selbstentlastung und Fremdbeschuldigung, in der nichts und alles Infektionstreiber ist, doch vor allem der Eindruck eines Kindergartenstreits, bei dem sich alle Parteien selbst einreden Recht zu haben und überzeugt sind, dass sich die Realität nach ihrer absoluten Überzeugtheit richten müsse.

Literatur

Heinen, Nike 2020: Sind Kitas und Schulen wirklich Infektionstreiber? in: Die Welt vom 8.6.2020, https://www.welt.de/gesundheit/plus209124693/Corona-Wie-ansteckend-sind-Kinder.html.

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