Über Imagination und Realität unvertrauter Städte

Während der Planung einer Reise in eine Stadt, in der ich vor über zehn Jahren für ein Jahr gelebt habe, erinnere ich mich an eine Erinnerung: Eine Gasse, die, abgehend von einer großen Straße unweit der Universität, hoch führt auf einen Berg. Die kopfsteingepflasterte Gasse, lang und schräg gestuft, wird von gemütlichen Pubs gesäumt, in denen es besonders gutes Essen und gutes Bier gibt. An ihrem Ende führt ein Pfad am Hang entlang und öffnet schließlich den Blick auf ein wunderschönes Tal, mit weißen Felsen. Ein geheimer Ort. – Ein Ort, den es nie gegeben hat.

„Über Imagination und Realität unvertrauter Städte“ weiterlesen

Guter Westen, schlechter Westen – Zur Kritik einer Einheitsfiktion

Der „Westen“ hat mal wieder Konjunktur. Mal ist er Identifikationspunkt, mal Synonym allen Bösens. Während die einen den Westen vor allem als Sammlung von (vor allem moderner und universeller) Werten sehen, wird dem Westen, nicht zuletzt jüngst von russländischer Seite vorgeworfen, diese Werte nur heuchlerisch zur Verkleidung eines partikularistischen Herrschaftsanspruchs zu  benutzen. 

In einem kürzlich erschienen Artikel meint nun Moritz Rudolph, dass in gewisser Weise beides stimmt – zu seiner Zeit.

„Der Westen mag ein Schuft gewesen sein, aber seine Herausforderer sind es noch immer.“ (Rudolph 2023: 90)
„Guter Westen, schlechter Westen – Zur Kritik einer Einheitsfiktion“ weiterlesen

Zur Popkulturkritik als reflexiver Praxis

Häufig fasst die Kritik der Popkultur diese entweder als bloße Verblendungsindustrie, die ständig und überall zu entzaubern ist, oder meint aber in ihrer Tiefenstruktur selbst eine Kritik der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen zu können. Der Wert einer Kritik der Popkultur besteht aber in Wahrheit in einer Verkehrung, einem détournement. Es ist nicht der eigentliche Gehalt, der den populären Werken ihr kritisches Potential gibt, sondern was diesen gegen sie selbst abgerungen wird. Noch der flachste Streifen bringt die unaustilgbare Möglichkeit mit sich, als stoffliche Anregung zur Reflexion auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu dienen. Solche Reflexion wird in Popkultur nie im Werk selbst notwendig. Aber sie ist ihr auch nicht erst von außen durch die Kritiker*in aufgepfropft.

„Zur Popkulturkritik als reflexiver Praxis“ weiterlesen

Reform oder Kladderadatsch? Universitäre Beschäftigungspolitik in der Zwickmühle

Die Beschäftigungspolitik der Wissenschaft ist in einer Zwickmühle, in der Verbesserungen dringend nötig sind, aber jeder Schritt vor oder zurück alles noch schlimmer zu machen droht. Das wird sehr deutlich an der Diskussion um die aktuellen Reformen des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG). Es ist bezeichnend, dass Sätze wie die folgenden geschrieben werden können, ohne die Absurdität des Gesagten erklären zu müssen:

„Die gesetzliche Vorgabe einer Höchstbefristungszeit für Stellen in Lehre und Forschung ist für das Wissenschaftssystem dysfunktional. Denn: Innovative und gründliche Forschung braucht in allen Disziplinen Zeit, Verlässlichkeit, Fehlerkultur. Das bedeutet aber: Flukturation, Prekarität, Ungewissheit und Abhängigkeit in bislang extrem hierarchischen Arbeitsformen schaden der Qualität von Forschung und Lehre.“ (Vorstand der DGS 2023: S. 353)
„Reform oder Kladderadatsch? Universitäre Beschäftigungspolitik in der Zwickmühle“ weiterlesen

„SozGPT“ als Zaubermaschine der Soziologie

In der aktuellen Soziologie träumt Dirk Baecker von einem soziologischen Chatbot, der den Forschungsstand zu jedem beliebigem Thema „auf Knopfdruck“ liefern kann.

„Mich würde ein Chatbot interessieren, der ausschließlich mit soziologischem Wissen arbeitet, national und international. Mit jedem Prompt würde man herausfinden, was man in der Soziologie schon weiß und was nicht. Man könnte Problemstellungen ergänzen, Lücken identifizieren und füllen, Gewichtungen korrigieren und so an einem SozGPT arbeiten, der im Fach und für das Fach das Wissen des Fachs repräsentiert. Auf Knopfdruck wären die Perspektiven und Ergebnisse anderer Disziplinen zuschaltbar und wieder abschaltbar, so dass interdisziplinär gearbeitet werden könnte. Ein weiterer Knopfdruck erschließt beziehungsweise ignoriert Praxiserfahrungen. Und nicht zuletzt könnte man quantitative und qualitative, statistische und hermeneutische, nomologische und interpretative Register ziehen und wieder ausschalten, um herauszufinden, wie ergiebig verschiedene Ansätze sind und ob und wie sie miteinander kombiniert werden können. SozGPT würde die Schranken des Fachs offenbaren, sich innerhalb des Fachs jedoch ohne Vorurteil bewegen“ (Baecker 2023: 270).

Diesem Traum liegt wieder einmal ein Verkennen dessen zugrunde, was Bots wie ChatGPT etc. tun und was man von ihnen erwarten kann. Baecker verspricht sich von einer entsprechenden auf die Soziologie feinabgestimmten Technologie eine Repräsentation des soziologischen Wissens. Aber Sprachmodelle verfügen über kein Wissen, sondern eben nur über Sprache. Ihr Medium ist die Plausibilität der Oberfläche, nicht die Wahrheit eines dahinterliegenden Wissens. Und diese Plausibilität ist letztlich ein menschlicher Maßstab. Hier eine Repräsentation von Wissen „ohne Vorurteil“ anzunehmen, ist ein technizistisches Missverständnis. Denn das Vorurteil ist letztlich das Mittel, mit dem Sprachmodell beigebracht wird, Plausibles von Nicht-Plausiblem zu scheiden.

„„SozGPT“ als Zaubermaschine der Soziologie“ weiterlesen

Plausibilität und Wahrheit – Anmerkung zum Missverständnis von ChatGPT

In einem kürzlich erschienen Artikel problematisiert Paola Lopez, dass in der öffentlichen Diskussion um ChatGPT zumeist verkannt wird, was ChatGPT überhaupt ist. So wird nicht zuletzt im akademischen und journalistischen Kontext kritisiert, dass die Chatbot-App Quellen erfindet. Lopez wendet zurecht ein, dass dies genau ist, was von einem Sprachmodell zu erwarten ist.

„Plausibilität und Wahrheit – Anmerkung zum Missverständnis von ChatGPT“ weiterlesen

Nationalismus und Demokratie – zwischen Integration und Desintegration

In der aktuellen Ausgabe des Merkur hat Claudia Gatzka einen interessanten Artikel zur Zeitgeschichte des Nationalismus geschrieben. Gatzka fasst Nationalismus nicht als das andere (realer) liberaler Demokratien, sondern als einen mehr oder weniger integrierten oder desintegrierten Bestandteil von diesen. Vor diesem Hintergrund wäre das Auftreten und Erstarken der AfD weniger als ein Neuentstehen nationalistischer Positionen zu verstehen, sondern als ein Prozess deren Desintegration – etwa in iberale oder lonservative Parteien (Gatzka 2023: besonders 19 f.).

„Nationalismus und Demokratie – zwischen Integration und Desintegration“ weiterlesen

Klaus Kraemer über öffentliche Soziologie im „Schockzustand“ der Corona-Krise – keine Entgegnung

Im Sommer letzten Jahres hat Heinz Bude in der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Soziologie über seine Tätigkeit als Berater für die Politik im Hinblick auf die Corona-Politik und seine Aktivität in der No-Covid Initiative geschrieben (Bude 2022). Im jüngst erschienen Heft der Zeitschrift reagiert Klaus Kraemer nun mit einer „Entgegnung“. Auch wenn deutlich ist, dass Kraemer sowohl an der Tätigkeit Budes als auch an seinem Text einiges auszusetzen hat, ist nicht ganz klar, auf was Kraemer nun genau entgegnet, beansprucht Bude doch gar nicht eine These vorzubringen, die man mit einer einfachen Gegenthese beantworten könnte, sondern reflektiert vor allem auf seine Erfahrungen.

„Klaus Kraemer über öffentliche Soziologie im „Schockzustand“ der Corona-Krise – keine Entgegnung“ weiterlesen

Permanente Öffentlichkeit und das Ende der Intellektuellen

Dass wirkliche öffentliche Intellektuelle heute so rar sind, liegt weniger an der Öffentlichkeit als an der Privatheit. Wir sind alle mit Formen der Öffentlichkeit so kurzgeschlossen, dass Thesen nicht mit Schlagkraft in die Öffentlichkeit treten, sondern vorher schon in tausendfachen Bruchstücken und mannigfaltigen Versionierungen vorformuliert und angetestet sind. Unser Debattenraum ist dementsprechend selbst ein anderer. Er ist viel stärker durch vorläufige und experimentelle Positionierungen gekennzeichnet. Man kann das bedauern, sich versuchen dem partiell zu entziehen, muss dem aber doch als diskursive Realität erst mal Rechnung tragen.

„Permanente Öffentlichkeit und das Ende der Intellektuellen“ weiterlesen

Zwischen An- und Enteignung. Anmerkungen zum Plagiat im Expropriationsverhältnis der Wissenschaft

Wenn in der Wissenschaft von Plagiaten die Rede ist, dann wird dies meist als ein Verstoß gegen „geistiges Eigentum“ verstanden. Damit übernimmt man aber eine Rahmung einer neoliberalen Eigentumsordnung (kritisch hierzu etwa Hardt 2005). Ich meine, dass ein Plagiat so weder epistemisch noch normativ angemessen gefasst wird. Und diese beiden Dimensionen hängen eng zusammen. Als Verstoß gegen geistiges Eigentum wären Plagiate doppelt zu fassen: einerseits verletzen sie die Rechte des Verlages, der sich ja oft die Rechte an entsprechenden Texten sichert. Erst sekundär werden hier die Rechte der Autor*in verletzt, und dies vor allem, sofern das Urheberrecht diesen ein unveräußerliches Recht an ihrem Produkt zugesteht.

„Zwischen An- und Enteignung. Anmerkungen zum Plagiat im Expropriationsverhältnis der Wissenschaft“ weiterlesen