Das desaströse Wahlergebnis der LINKEN in NRW hat wie zu erwarten vor allem einen Effekt: die zerstrittenen Fraktionen innerhalb der Partei geben sich gegenseitig die Schuld und alle fühlen sich in dem, was sie immer schon vertreten haben, bestätigt. In dieser Linie ist auch der Aufruf für eine „populäre LINKE“ zu verstehen, mit der das Wagenknecht-Lager sich für den Erfurter Parteitag am letzten Juni-Wochenende in Stellung bringt. Überraschende Erkenntnisse wird man da nicht erwarten dürfen.
Eine Stelle des Aufrufes finde ich aber interessant, weil sich darin vieles verdichtet, was ich an dieser Position nicht überzeugend finde und zum Teil auch dezidiert ablehne. Es heißt:
„Wir wollen eine LINKE, die für die Mehrheit der Bevölkerung, die Arbeitenden, die Familien, die Rentnerinnen und Rentner und die sozial Benachteiligten aktiv ist. DIE LINKE darf sich nicht auf bestimmte Milieus verengen. Es geht um die gemeinsamen Klasseninteressen. Will DIE LINKE sich in Stadt und Land, bei Jung und Alt, egal welchen Geschlechts, bei hier Geborenen wie Eingewanderten sowie Menschen mit Behinderungen verankern, muss sie die Leute in ihrem Alltag abholen: bei ihren Lebensbedingungen, Bedürfnissen und Erfahrungen. Und um gehört zu werden, muss eine allgemein verständliche Sprache gesprochen werden. DIE LINKE soll deshalb klar sagen, wofür sie steht. Sie muss offen und einladend sein, bereit und fähig zum Gespräch, nicht abstoßend, ausgrenzend und verschreckend. Nur so kann sie stärker werden.“ (https://populaere-linke.de/)
Zunächst wird hier beansprucht für eine Mehrheit der Bevölkerung zu stehen. Was hält diese Mehrheit zusammen? Bezeichnenderweise kann das nicht auf einen Begriff gebracht werden. Stattdessen wird zur Veranschaulichung dieser „Mehrheit“ eine Reihe sehr heterogenen (zum Teil sich überschneidender) Gruppen aufgerufen – Arbeiter*innen, Rentner*innen, Familien, Benachteiligte.
Zwar wird anschließend von „gemeinsamen Klasseninteressen“ gesprochen, das der Mehrheit zugrunde zu liegen scheint. Das klingt natürlich schön links. Aber es passt ja nicht mal zu den vorher genannten Kategorien. Inwiefern sind Familien durch einen Klassenbegriff zu fassen? Die Mehrheit, die der Aufruf stark macht, ist auch nur eine Mehrheit der Minderheiten. Das kann durch einen Verweis ans (vermeintlich geteilte) Klasseninteresse und (vermeintlich geteilte) Alltagserfahrungen, an denen die politische Ansprache sich orientieren soll, um „populären“ Erfolg zu haben, nicht ausgehebelt werden.
Die Klammer für die „Mehrheit“ ist letztlich eine andere, eine negative. Das wird noch im selben Satz deutlich: das (vermeintliche) Klasseninteresse wird dem Fokus auf „bestimmte Milieus“ entgegengesetzt. Dass diese Milieus hier nicht explizit genannt werden und der leicht despektierliche Ton, sind wohl kein Zufall. Warum aber werden die Minderheiten der „bestimmten Milieus“ der Mehrheit entgegengesetzt? Warum sollen sie nicht auch Teil der ohnehin heterogenen Mehrheit sein?
Das mag letztlich darin begründet liegen, dass sich die materialistische Basis des bemühten Mehrheitsbegriffs als bloß imaginär erweist. In Ermangelung eines substantiellen und empirisch gedeckten Klassenbegriffs sind es darum die für „skurril“ erklärten Minderheiten (Wagenknecht), die als Abgrenzungspunkte für eine damit letztlich kulturell Selbstvergewisserung als Teil der Mehrheit herhalten müssen. Das ist dann tatsächlich eine klassisch „populistische“ Politikkonzeption, wenn auch kaum eine weiterführende.
Führt man sich vor Auge, dass die im Aufruf gepriesenen Kollektiverfahrungen äußerst unspezifisch sind, verwundert es nicht, dass am Ende des oben wiedergegebenen Abschnitts nur Allgemeinplätze übrig bleiben. Wer will denn schon etwas aussetzten daran, eine allgemeinverständliche Sprache zu sprechen, und klar zu sagen, was man will? Wer fordert als Partei auszugrenzen und abzuschrecken statt einladend zu sein? Darin werden sich alle einig sein. Interessanter wird es, wenn es konkret wird: heißt das, homophobe Äußerungen zu dulden um diejenigen, die sie äußern nicht „auszugrenzen“? Oder will man auch für queere Menschen „einladend“ sein? Als Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und „bestimmten Milieus“ wird sich das nicht klug fassen lassen – eher als eine solche zwischen verschiedenen Entwürfen der Mehrheit aus Minderheiten.
Der Verweis auf die gemeinsame Kollektiverfahrung bringt am Ende einen zu sehr vereinfachten Materialismus zum Ausdruck: es erscheint, zugespitzt, als sei das revolutionäre Potential schon hinreichend in der objektiven Klassenlage begründet. Das blendet aber aus, dass schon für Marx das Bewusstsein nicht einfach passiv aus dem Sein abgeleitet ist, sondern hier eine gemeinsame Praxis vermittelt. Kurz: im Klassenkampf treffen nicht nur ökonomisch vorbestimmte Klassen aufeinander, sondern die Klassen formen sich in diesem Kampf, und mit ihnen wandelt sich die Wahrnehmungen und Erfahrungen der eigenen Lebenssituation.
Die Gegenüberstellung von Mehrheit vs. Milieus daher nicht nur zu kurz, weil sie verkennt, dass die Lebensrealität der „Mehrheit“ keinesfalls so gelichförmig ist, wie angenommen. Eine solche Position macht auch das Potential für gemeinsames politisches Handeln zu einseitig von vorbestimmten Ähnlichkeiten abhängig. Das führt dann schnell in die von der kapitalistischen Gesellschaft vorgeprägten Identitäten und kulturelle Abgrenzungen zurück. Produktiver ist es, an den Erfahrungen anzuknüpfen, die in den sozialen Kämpfen gemacht werden und die solche Identitäten überschreiten. In sozialen Kämpfen können auch „neue“ Gemeinsamkeiten in den Lebensbedingungen erkannt werden. Zu denken ist hier etwa an Mieter*innenkämpfe, in denen Fragmentierungen entlang von (sub-)kulturellen Differenzen oder auch entlang von Berufsgruppen überwunden durchkreuzt werden. Diese Gemeinsamkeiten wären dann auch Anknüpfungspunkt für eine „populären“ Linken und schüfe die Grundlagen für deren gesellschaftlichen und parlamentarischen Erfolg.
Keine überzeugende Argumentation, weil der zitierte Absatz des Aufrufs (absichtlich?) umgedeutet wird. Es ist einfach grob unrichtig, dass im Aufruf die Mehrheit „bestimmten Milieus“ entgegengesetzt wird. Im Gegenteil: Es wird die Vertretung „gemeinsamer Klasseninteressen“ gefordert und lediglich eine Verengung (!) auf bestimmte Milieus abgelehnt. Eine Gegenüberstellung Mehrheit vs. Milieus findet sich im Text nicht. Ein sehr zentraler Unterschied.
Das ist eine typische Strohmann-Argumentation: Einfach mal einem Text eine Aussage unterstellen, die sich in ihm gar nicht findet, und dann die eigenen Schlussfolgerungen auf dieser Umdeutung aufbauen. Es ist ein rhetorischer Trick zur Produktion von Schein-Logiken.
Im Übrigen ist glaub ich auch Unsinn, dass der Klassenbegriff, um den es hier geht, negativ bestimmt sei. Es scheint mir doch sehr klar, um welche Klasse es geht: Um die Mehrheit der Menschen, die nicht genug besitzen, um ihren Lebensunterhalt dadurch zu bestreiten, andere für sich arbeiten zu lassen. Dass diese Klasse einerseits sehr divers ist, andererseits gemeinsame ökonomische und politische Interessen hat, denen sich DIE LINKE energisch annehmen soll, das macht gerade der zitierte Abschnitt mehr als deutlich.
Aber warum ist es denn eine Verengung, auch auf die Belange „bestimmter Milieus“ einzugehen? Und wer ist da explizit gemeint?
Wo wir bei Strohmännern sind: Wer in der Linken fordert, man solle sich nicht um die Menschen kümmern, „die nicht genug besitzen, um ihren Lebensunterhalt dadurch zu bestreiten“?