Arten seine Maske nicht zu tragen, ohne sie nicht zu tragen

Heute und gestern in der U-Bahn in Wien, wo weiterhin Maskenpflicht herrscht, habe ich wieder einen Menschen gesehen, die ihre Masken zwar irgendwo in der Nähe ihres Gesichts hatten, aber sie dennoch nicht richtig getragen haben. Dieses verleugbare Maske-(Nicht)-Tragen finde ich besonders nervig, weil ja noch ein Bewusstsein mitkommuniziert wird, dass man die Regel, an die man sich nicht hält, durchaus kennt.

Mir schon bekannte Varianten waren:

  • Die Maske unter dem Kinn tragen. Dabei sind die Bänder hinter dem Ohr korrekt angebracht, aber die Maske wird so weit heruntergezogen, dass das Kinn sie quasi als Stopper unten hält.
  • Maske an einem Bügel am Ohr baumeln lassen. Sie wird nicht getragen, ist aber auch schnell anzuziehen, wenn es erforderlich ist (wenn eine Fahrkartenkontrolleur*in kommt?). Signalisiert wird hier als neben der Normdevianz eine abgespeckte Form der potentiellen Normbefolgung im Kontext unmittelbarer Normsanktionierung (dies könnte für eine Reflektion der Rolle von Normen für Soziale Ordnung interessant sein, wie sie etwa zwischen Strukturfunktionalismus und Ethnomethodologie geführt wurde (vgl. Schneider 2005).
  • Maske unter der Nase tragen. Hier bewegt man sich in einen Graubereich hinein. Das Nicht-Tragen kann nicht nur schnell geändert werden – es kann auch geleugnet werden. Kritik am eigenen Verhalten wird hier dadurch erschwert, dass unklar ist, was ihr Bezugspunkt sein müsste: die Intention oder die Nachlässigkeit in der Umsetzung. Denn eine Maske kann ja durchaus unbeabsichtigt von der Nase rutschen (auch wenn ich nicht ganz nachvollziehen kann, wie das dann nicht auffällt …). Kritisiert man der Warte des absichtlichen Falschtragens, begibt man sich schnell in die Gefahr, unhöflich zu sein, wenn doch nur ein Versehen vorlag! Sinnvoller ist daher wohl das strategische Unterstellen eines Versehens. Wird auf den freundlichen Hinweis nicht reagiert, geht die potentielle Eskalation der Gesprächsdynamik zumindest nicht von einem selber aus, sondern muss von der anderen Person, die die Maske unter der Nase trägt, aktiv betrieben werden.
  • Maske tragen, sie aber alle 10–20 Sekunden „lüften“, um gut an der Maske vorbei atmen zu können. Hier wird man schon ohnehin kaum etwas sagen, weil die Unterscheidung zwischen Maske-Richten leicht verleugbar (deniable) sein dürfte. Auch wenn intuitiv relativ evident ist, was da getan wird, ist es in kontestierender Kommunikation nicht einfach als mit Anerkennungserwartung ausgestattet voraussetzbar.

Heute habe ich zu diesen Optionen zwei weitere gesehen.

  • Die Maske in ca. 1 cm Abstand vor das Gesicht halten. Dabei sind in diesem Fall die Bügel nicht hinterm Ohr angebracht. Die Maske schwebt hier quasi vor dem Gesicht. Sie spielt letztlich für das Atmen keine Rolle. Zugleich wird die symbolisch präsent gemacht. Das absurde an dieser Variante ist, dass man sich halt minutenlang die Maske vors Gesicht halten muss und der Aufwand wohl wesentlich höher sein dürfte als das An- und Ausziehen der Maske.
  • Maske so weit herunterziehen, dass sie gerade eben so noch auf der Nasenspitze sitzt. Dabei entstehen an den Nasenflügeln größere Öffnungen, so dass auch hier effektiv an der Maske vorbei geatmet wird. Während ich schön öfter Menschen gesehen habe, die ihre Maske so tragen, habe ich gestern zum ersten Mal Menschen in der U-Bahn beobachtet, die ihre Maske sorgsam so platziert haben. Dafür haben sie die Maske zunächst angezogen und dann behutsam, bis zum ‚Nasenanschlag‘ heruntergezogen. Hier handelt es sich wohl um die subtilste Form des Maske-(Nicht-)Tragens, denn letztlich ist eine Unterscheidung zu einer korrekt getragenen, aber ein bisschen verrutschten Maske gar nicht mehr verlässlich zu treffen.

Nachtrag, Essen, 28.7.2022

Auf dem Weg von Essen nach Bochum habe ich gestern eine interessante ‚Gegenbeobachtung‘ gemacht. Ein älterer Herr trug in der Tram die Maske wie oben beschrieben unterm Kinn. Ich setzte mich und er blickte in meine Richtung. In diesem Moment habe ich den Sitz meiner Maske noch einmal nachjustiert, damit diese an Nase und Wangen gut abschließt. Auch wenn dies nicht als symbolisch Geste intendiert war, blickte der Herr sogleich ertappt, zog die Maske hoch und signalisierte mit einer Geste des Fingers auf den Kopf, dass er dieser vergessen habe. Ob dies der Fall ist, oder ob er mein Justieren seinerseits als demonstrative Geste aufgefasst hat, die einen normativen (mahnenden) Appell an ihn richtet, vermag ich nicht zu beurteilen. Es ist aber doch beides interessant, entweder, dass Menschen, die die Maske in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht tragen, auf Erinnerungen positiv ansprechen, weil sie die Maske gar nicht bewusst nicht tragen, oder dass diese Erinnerungen die normative Verbindlichkeit erhöhen, indem sie den Weg der verleugbaren Absicht hinter der Handlung durch eine Explizierung der Anwendung der Norm/Regel auf diesen Fall abschneiden.

LITERATUR:

Schneider, Wolfgang Ludwig 2005: Grundlagen der Soziologischen Theorie, Bd. 2: Garfinkel – RC – Habermas – Luhmann, Wiesbaden: VS Verlag.

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