Guter Westen, schlechter Westen – Zur Kritik einer Einheitsfiktion

Der „Westen“ hat mal wieder Konjunktur. Mal ist er Identifikationspunkt, mal Synonym allen Bösens. Während die einen den Westen vor allem als Sammlung von (vor allem moderner und universeller) Werten sehen, wird dem Westen, nicht zuletzt jüngst von russländischer Seite vorgeworfen, diese Werte nur heuchlerisch zur Verkleidung eines partikularistischen Herrschaftsanspruchs zu  benutzen. 

In einem kürzlich erschienen Artikel meint nun Moritz Rudolph, dass in gewisser Weise beides stimmt – zu seiner Zeit.

„Der Westen mag ein Schuft gewesen sein, aber seine Herausforderer sind es noch immer.“ (Rudolph 2023: 90)

Den Antiwestlichen Diskurs sieht Rudolph nicht in dessen Herrschaftsanspruch begründet, sondern gerade darin, dass der Westen den Herrschaftsanspruch zurückgefahren habe und so Raum für die Herrschaftsaspirationen der vormals unterworfenen gelassen wird. 

Dies ist einerseits eine interessante Perspektive zumindest in der Hinsicht, dass der Versuch, dem Westen Heuchelei in Bezug auf seine Werte vorzuwerfen, voraussetzt, dass diese Werte in ihrem Gültigkeitsanspruch zunächst ernst genommen werden. Nicht allein der Bruch von Normen durch eine westliche Machtpolitik ist Wurzel heutiger Skandalisierungen des Westens, sondern eben auch die Tatsache, dass die ihm zugeschriebenen Werte zunehmend an Verbindlichkeit gewinnen, so dass die politische Realität immer genauer mit ihnen abgeglichen wird.

Zugleich wirkt Rudolphs oben genannte Aussage über den Westen aber auch als eine all zu ungebrochene Gutwerdungsgeschichte. Ja, wir waren nicht immer brav, aber heute sind wir doch die Guten. In gewisser Weise bleibt seine Kritik am „Phantom des schrecklichen Westens“ – wie es im Untertitel seines Artikels heißt – in der Tendenz zur Vereinheitlichung stecken, wie sie gerade auch die neuen und alten Skandalisierungen des Westens kennzeichnet. Abgeblendet werden dabei Widersprüche, Kämpfe und Verschränkungen, in denen der Westen immer schon zugleich Antiwesten ist, und der Antiwesten zum Teil genau dem Nachstrebt, was er dem Westen vorwirft (so wie Putin u.a. seinen Krieg gegen die Ukraine für legitim erklärt, weil der Krieg der USA im Irak illegitim gewesen sei …). Auch die vieldiskutierten „westlichen Werte“ sind ja zu weiten Teilen im Westen gegen die Herrschenden formuliert und erkämpft worden.

Vor diesem Hintergrund eignet der Westen sich nicht für pauschale Zuschreibungen. Man wird ihn jedenfalls in sinnvoller Weise nicht los, wenn man sich außerhalb von ihm stellt und ihn zu einem Ding macht, das man einfach so abschaffen könnte. Und, während man heute der postkolonialen Theorie oft ein homogenisierendes Bild des bösen Westens ankreidet, zeichnen ihre besseren Ansätze sich gerade dadurch aus, dass sie diese Verschränkung und wechselseitige Konstitution von Westen Nicht-Westen, von Westen und Anti-Westen aufweisen und verständlich machen (vgl. Meinhoff 2022).  

Literatur

Rudolf, Moritz 2023: Tocqueville global. Das Phantom des schrechlichen Westens, Merkur, 77, 893, S. 84–91.

Meinhoff, Marius 2022: Postkoloniale Soziologie oder Soziologie des Kolonialismus? Irritationspotentiale postkolonialen Denkens für die Soziologie, Soziologie, 49, 4, S. 410–422.

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