Klaus Kraemer über öffentliche Soziologie im „Schockzustand“ der Corona-Krise – keine Entgegnung

Im Sommer letzten Jahres hat Heinz Bude in der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Soziologie über seine Tätigkeit als Berater für die Politik im Hinblick auf die Corona-Politik und seine Aktivität in der No-Covid Initiative geschrieben (Bude 2022). Im jüngst erschienen Heft der Zeitschrift reagiert Klaus Kraemer nun mit einer „Entgegnung“. Auch wenn deutlich ist, dass Kraemer sowohl an der Tätigkeit Budes als auch an seinem Text einiges auszusetzen hat, ist nicht ganz klar, auf was Kraemer nun genau entgegnet, beansprucht Bude doch gar nicht eine These vorzubringen, die man mit einer einfachen Gegenthese beantworten könnte, sondern reflektiert vor allem auf seine Erfahrungen.

Letztlich scheint es Kraemer vor allem um eine Kritik öffentlicher Soziologie und soziologischem Expert*innentum in der Corona-Krise zu gehen. Und sicher gibt es da viel, was man an einzelnen Soziolog*innen und vielleicht auch an der Positionierung soziologischer Institutionen falsch finden kann. Kraemer gelingt es aber nicht, hier eine klare und in der Begründung nachvollziehbare Kritik vorzubringen und bleibt letztlich selbst inkonsistent in seinen Forderungen, die zwischen distanzierter wissenschaftlicher Politikabstinenz und eingeforderter Gegenexpertise changieren.

Ich möchte an dem Punkt einsetzen, der mir der stärkste in Kraemers Artikel zu sein scheint. Bezüglich der öffentlichen Diskussion problematisiert Kraemer eine „undisziplinierte Extradisziplinarität“. Damit versucht er die Beobachtung auf den Punkt zu bringen, dass Expert*innen während der Pandemie sich häufig nicht beschränkt auf ihren eigenen Kompetenzbereich geäußert, sondern eine Allzuständigkeit angemaßt haben.

„Im Schockmoment der Krise zeigt sich die undiziplinierte Extradisziplinarität des Expertenstatus beispielsweise darin, dass Laborvirologen pädagogische Ratschläge für ein verantwortbares Alltagsverhalten geben, Mediziner Populärpsychologie betreiben, Philosophinnen und Ethiker vor der biomedizinischen Infektiosität des Virus warnen, Physikerinnen in eindringlichen öffentlichen Appellen die sofortige Schließung von Schulungen und Kindergärten fordern, mathematische ‚Komplexitätsforscher‘ die nichtintendierten Folgen von Eindämmungsmaßnahmen einfach ignorieren oder Soziologen Maskenempfehlungen aussprechen, Mutmaßungen über die biomedizinische Dynamik des zukünftigen Infektionsgeschehens anstellen und darauf konkrete politische Handlungsempfehlungen ableiten.“ (Kraemer 2023: 20 f.)

Ohne hier jede Beschreibung im Einzelnen teilen zu müssen, kann man sicher zugestehen, dass gerade im Unsicherheitsmoment der frühen Pandemie Expert*innen als Wissens- und Verlässlichkeitslieferant*innen äußerst gefragt waren und bei dieser Nachfrage die Begrenztheit des Wissenstandes und die Begrenztheit der disziplinären Grundlage der jeweiligen Einschätzung häufig ausgeklammert wurde – und sicher auch nicht selten verallgemeinerte Einschätzungen jenseits dieser Grenzen gerne gegeben wurden. Viele Soziolog*innen mögen sich über die impliziten Sozial- und Gesellschaftstheorien einiger von Virolog*innen getätigten Äußerungen gewundert haben, die mit dem Wissensstand des Fachs schwer kompatibel sind.

All das kann man als Soziolog*in beklagen, auch wenn es wohl spannender ist, es erst einmal als Phänomen der Wissenschaft der Gesellschaft in der Wissenschaftsgesellschaft genau zu erfassen. Irritierend wird es, wenn Kraemer dem Forderungen für eine gute öffentliche Soziologie entgegenhält. So mahnt er an, diese habe „in der Rolle eines wissenschaftlichen Beobachters von Gesellschaft zu verbleiben“ (Kraemer 2023: 21). Irritierend ist dies darum, weil er diese Rolle ja nicht einfach für die Wissenschaft einfordert, sondern für Expert*innen. Damit stellt dies letztlich eine Forderung der Abschaffung von Expert*innen, bzw. ihre Auflösung in eine (man könnte sagen: enthaltsame) Wissenschaft dar, zeichnen sich Expert*innen doch gerade durch ihren Grenzgang zwischen Wissenschaft, medialer Öffentlichkeit und Politik aus (vgl. etwa Jens Maeße 2015).

Zugleich mit dieser Forderung nach politischer Abstinenz zugunsten reiner Beobachtung formuliert Kraemer aber durchaus einen gesellschaftlichen Auftrag für die Soziologie. Er diagnostiziert einen dominanten öffentlichen Diskurs, der auf eine „virologisch-biozentristischen Sichtweise“ verkürzt gewesen sei und in dem letztlich alle Abweichenden Positionen und darunter eben auch die soziologische Perspektive nicht nur vernachlässigt, sondern letztlich moralisch abgewertet wurden (Kraemer 2023: 13 f.). Kraemer geriert sich gegenhegemonial, wenn er als „soziologische Kernkompetenz auch im Krisemodus“ ausweist, entgegen der konformistisch vereinseitigten herrschenden Meinung „die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Wirkungen von Maßnahmen zur ‚Kontrolle‘ der Pandemie in den Mittelpunkt zu rücken und möglichst von Beginn an darauf aufmerksam zu machen, dass eine umsichtige Pandemiepolitik immer auch die schon früh absehbaren nichtintendierten Nebenfolgen bedenken sollte“ (Kraemer 2023: 22).

So verständlich die Vorliebe von Soziolog*innen fürs Gesellschaftliche, gibt es dennoch nichts in der bloßen sozialwissenschaftlichen Beobachtung, aus dem notwendig folgen würde, dass dem eigenen Beobachtungsgegenstand eine größere öffentliche Aufmerksamkeit, geschweige denn objektiv eine herausgehobene Relevanz gegenüber den Gegenständen anderer Disziplinen zukomme. Auch die hier gemachte Annahme, dass Soziologie sozusagen Fürsprecherin des Sozialen sein müsse, ist eine politische Setzung. Zumal eine, die angesichts der im Text immer wieder klar durchscheinenden Haltung Kraemers keineswegs so uninteressiert zu sein scheint, wie sie sich gibt. So changiert die Soziologie bei Kraemer zwischen der geforderten wissenschaftlichen Enthaltsamkeit und einer „Gegenexpertise“ (um einen Begriff von Nils Kumkar (2022) aufzugreifen), indem sie mit einer vermeintlich unterdrückten politisch-medialen Widerstandsposition artikuliert wird.

Dazu zu passen scheint mir, dass Kraemer den politischen Diskurs von 2020 und 2021 letztlich wesentlich homogener und harmonischer darstellt als er war, wenn er von den „grenzen des legitimen Debattenraums“ (Kraemer 2023: 17) spricht und auf seine „Eindrücke“ rekurriert, dass eine Abweichung von der kollektiven Norm die „Gefahr eines Reputationsverlusts“ (Kraemer 2023: 12) mit sich gebracht hätte. Sicher, gestritten wurde häufig durchaus mit harten Bandagen. Aber, dass „abweichende Expertengruppen kaum beachtet oder sogar schlicht ignoriert“ wurden, „die sich schon früh für eine stärkere Beachtung der Verhältnismäßigkeit von Eindämmungsmaßnahmen und eine explizite Perspektivenerweiterung des Pandemiemanagements über virologisch-biozentristische Sichtweisen hinaus aussprachen“ (Kraemer 2023: 13), unterschätzt die Vielstimmigkeit und Konfliktualität entsprechender Diskurse.

Über eine dieser Diskussionen, nämlich die, ob Kinder (keine) „Infektionstreiber“ sein, habe ich im Februar 2021 etwas geschrieben – also innerhalb des von Kraemer anvisierten Zeitraums. Bereits früh hat Aladin El-Mafaalani eine Berücksichtigung der sozialen Folgen von Schulschließungen eingefordert, ohne dabei zum „Coronaleugner“ geworden zu sein – und das u. A. in der von der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, nicht gerade ein Hort klandestiner Gegenkultur (El-Mafaalani 2020). Hendrik Streek, der als Gegenexperte aufgetreten ist, hat dazu eine Bühne in so gut wie allen reichweitenstarken Formaten bekommen und ist heute Mitglied des Expert*innenrats der Bundesregierung zur Covid-19-Pandemie. Und auch Wolfgang Streeck, den Kraemer als Beispiel für die „Grenzen des legitimen Debattenraums“ anführt, hat seinen vermeintlich inkriminierten Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.

Was bei Kraemer als Unterdrückung jeder abweichenden Meinung zugunsten einer „moralisch bis zum Äußersten aufgeladenen Politik der einfachen Worte“ kritisiert wird, scheint vor diesem Hintergrund profaner auf die Feststellung hinauszulaufen, dass die eigene politische Meinung nicht hinreichend medial repräsentiert gewesen sei. Das ist nicht automatisch schon falsch. Es bedürfte aber letztlich expliziter Maßstäbe dafür, warum diese Position mehr Raum verdient hätte als sie bekommen hat, und droht schnell letztlich zu unterstellen, was noch zu zeigen wäre. Denn es eint wohl alle politischen Positionen bezüglich der Corona-Krise, dass sie die jeweilige Gegenseite als medial unangemessen präsent erlebt haben. Gerade hinsichtlich solcher Fragen, bedürfte es meines Erachtens aber einer stärkeren Orientierung an Evidenz jenseits des „Eindrucks“, in dem sich Beobachtung und impliziter Anspruch vermengen.

Literatur:

Adler, David 2021: „Infektionstreiber“ im Corona- Diskurs: Der diskursive Kampf um die Lasten der Pan- demiebekämpfung, DiscourseNet Collaborative Working Paper Series, no. 4, https://discourseanalysis.net/dncwps.

Bude, Heinz 2022: Aus dem Maschinenraum der Beratung in Zeiten der Pandemie. Soziologie, 51, 3, S. 245–255.

El-Mafaalani, Aladin 2020: „Lasst die Lehrkräfte in Ruhe, aber nicht die Schulen“ Ein Gespräch über Bildung in Zeiten der Corona-Pandemie, Aus Politik und Zeitgeschichte, 70, 35–37, S. 29–32.

Kraemer, Klaus 2023: Was kann die Soziologie im Schockzustand einer Krise leisten? Eine Entgegnung auf Heinz Bude, Soziologie, 52, 1, S. 7–25.

Kumkar, Nils C. 2022: Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung, Berlin: Suhrkamp.

Maeße, Jens 2015: Economic Experts. A Discursive Political Economy of Economics, Journal of Multicultural Discourses, Vol. 10, 3, S. 279–305.

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