Lob der Kapitalismuskritik – oder: warum eine Kapitalismusfolgenkritik nicht ausreicht

Kapitalismuskritik fristet heute ein paradoxes Dasein. Einerseits erfreut sie sich als grobe und handfertige Universalerklärung allen Übels großer Beliebtheit. Andererseits wird sie als blinder und vielleicht auch impotenter Radikalismus zugunsten sozialtechnologischer Lösungen zurückgewiesen. Dass sie aber zwischen diesen Polen auch heute eine Berechtigung hat, wird deutlich, wenn man sich die konkrete Beschränktheit im Umgang mit vielen gesellschaftlichen Herausforderungen anschaut. Auch aus linker Perspektive, verbleibt Kritik oft im Status der Kapitalismusfolgenkritik. In einer solchen werden kapitalismusspezifische Zusammenhänge und ‚Gesetze‘ als selbstverständlich und unhinterfragbar hingenommen. So werden nicht die sozialen Mechanismen kritisiert, die das Feld politische Handlungsmöglichkeiten in seiner gegeben Form hervorbringen. Stattdessen bleiben Proteste häufig in dem durch diese Mechanismen eingesetzten Verhängnis verfangen. Hier kommt ein klassisches Motiv der Kapitalismuskritik zur Geltung: Der Kapitalismus ist eine Verhängnismaschine – oder, wenn man so will, zeitgemäßer, ein Verhängnisalgorithmus. Er lässt als notwendig erscheinen, was historisch kontingent hervorgebracht ist, und knotet uns somit an die gegebenen Umstände. Eine kapitalismuskritische Perspektive drängt sich also immer dann auf, wenn Folgen politischen Handelns durch scheinbar unhintergehbare Gesetze begründet werden.

Drei Beispiele:

(1) Fossile Arbeit

Ob Kohleausstieg oder Automobilität, eine Beschränkungen der Zerstörung von natürlichen Lebensbedingungen des Menschen, muss sich heute an ihrer „Sozialverträglichkeit“ messen. Unsere gegenwärtige Lebens- und Produktionsweise erweist sich allein schon deshalb als Veränderungsresistent, weil sie in „Arbeit“ hervorgebracht ist. Auf den Punkt gebracht hat dies neulich noch einmal Lothar Gallow-Bergemann:

„Für die Müllhalde zu produzieren, ist zu einer tragenden Säule des Kapitalismus geworden. Jeder weiß, dass es beispielweise viel zu viele Autos gibt. Aber wessen Lebensunterhalt davon abhängt, dass VW, Daimler und Co. möglichst viele davon verkaufen, der sitzt in der Falle. Dass der ganze Laden irgendwann an die Wand fahren wird, ist fast zum Allgemeinwissen geworden. Die systemimmanente Antwort lautet: Wir müssen weiter auf die Wand zurasen, weil unser Leben davon abhängt.“ (Gallow-Bergemann 2020)

Nun ist die Antwort sicherlich keinesfalls, diesen Zusammenhang zu leugnen. Es ist ein wichtiger und zu berücksichtigender Faktor bei der Umsetzung der „Energiewende“, dass das Arbeitsleben – und damit eben auch schlicht: das Leben – von Menschen an Institutionen und Praktiken hängt, von denen man sich in der Energiewende eben ‚abwendet‘. Zuwenig ist es allerdings, dabei stehen zu bleiben, und schlicht konsterniert die notwendige Beschränkung eine sozial-ökologischen Transformation dadurch hinzunehmen, dass fossile Energie- oder Mobilitätsformen unter kapitalistischen Bedingungen hergestellt werden. Das die soziale und gesellschaftliche Existenz an Lohnarbeit gekoppelt ist, und sie durch diese völlig unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Nutzen und ihren gesellschaftlichen Folgen garantiert wird (oder nicht), ist ein Verhängnis, dass keineswegs naturgegeben ist, sondern erst unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion hervorgebracht wird. An einem anderen Beispiel wird die Unhaltbarkeit dessen, dieses Verhängnis einfach hinzunehmen, vielleicht noch deutlicher werden: Auch der Henker geht ja seiner Arbeit nach. Kaum einer wird es heute wohl aber für richtig halten, die soziale Institution der Todesstrafe, der er seine Existenz verdankt, darum ‚sozialverträglich‘ fortzuführen. (Allerdings steht das Argument offensichtlich dann bereits schon wieder zur Verfügung, wenn es um Tötungsinstrumente geht – siehe Rüstungsindustrie.)

(2) Gentrifizierung und Elendsromantik

Beliebt ist seit einigen Jahren die Kritik von „Gentrifizierung“. Diese hat sich hierzulande insbesondere an der städtebaulichen Transformationen der neoliberalen Stadt entzündet (etwa Twickel 2010). Aber auch jenseits solcher groß angelegten und geplanten Transformationsprozesse wird immer häufiger der „Kiez“ gegen eine schleichende Transformation „verteidigt“, als deren Ursachen (und Symptome) Studierende, Künstler*innen, Cafés etc. gelten.

In der frühen Verwendung des Begriffs rückte insbesondere eine Verschiebung von Kapitalinvestitionen in den Vordergrund, bei der überschüssiges Kapital – ausgehen von De-Industrialisierungstendenzen aber auch Angesichts der Überdehnung einer Suburbanisierung, in der sich das Leben der Angestellten in der funktional differenzierten Stadt zunehmend in eine heile Weilt der Vororte verschob (vgl. Whyte 1960) – vermehrt wieder in innenstädtischen und zentrumnahen Stadtvierteln investiert wurde. Während sozio-kulturelle Veränderungen hier eher als Nebenfolge verstanden wurden, rückten diese aber zunehmend auch als eigenständige Faktoren in den Blick (vgl. Zukin 1987). Heute scheint sich das Verhältnis in der Erklärung von sozialen und räumlichen Transformationsprozessen häufig umgekehrt zu haben. Es ist, so scheint es, dem Zuzug von Kreativen und einer kulturellen „Aufwertung“ geschuldet, dass die Lebenshaltungskosten im Stadtviertel steigen. Dies schlägt sich etwa in der Popularität von Phasenmodellen nieder, in denen von einer „Invasion“ von Pionieren ausgegangen wird, denen dann die neureichen „Gentrifizierer“ folgen (etwa Biesel 2017). Auch wenn sich ein solcher Entwicklungszyklus empirisch nicht ohne weiteres bestätigen lässt (vgl. Friedrichs 1996), verstärkt gerade seine graphische Darstellungen den Anschein, es mit quasi-naturgesetzlichen Zusammenhängen zu tun zu haben (vgl. Abb. 1).

Eine Darstellung der Phasen der Gentrifzierung mit Graphen, die den Zuzug und Wegzug von "Pionieren" Getrifizierern" und "unteren sozialen Schichten" darstellt.
Abb. 1: Modell des doppelten Invasions-Sukzessions-Zyklus bei Dangschat (1988, S. 281).

Politisch schlägt dies sich zuweilen darin nieder, dass vermeintliche „Pioniere“ der Gentrifizierung des Stadtviertels identifiziert und angegriffen werden, oder dass eine Verbesserung der Lebensbedingungen verhindert werden soll, da dies als erster Schritt der Verdrängung gesehen wird. Diese Verhinderung kann mal substantieller ausfallen, mal sich eher auf die Oberflächenästhetik des Viertels beziehen: wenn etwa in einem „Anti-Gentrifizierungs-Kit“ vorgeschlagen wird, sich Aldi-Tüten in die Fenster zu hängen, Unterhemden auf dem Balkon zu trocknen und Reparaturen am Baubestand einen unprofessionellen Look zu geben (vgl. Hoffmann/Mehren/Fögele 2016: 57). Neben einem Rückfall in klassistische Vorurteile kann man einer solchen Position wohl auch Zynismus vorwerfen. So wurde in einer Diskussion um die (vermeintliche) Gentrifizierung von Straßenzügen in Bochum zurecht festgehalten:

„Einige sind der Meinung, eine gute Methode, Gentrifizierung zu verhindern, sei es, Stadtteile unattraktiv zu halten, Häuser nicht zu renovieren, die Straßen zu vermüllen und billigen Einzelhandel zu erhalten. Die Konservierung und Romantisierung von Armut, so bunt sie auch erscheinen mag, ist keine Lösung. Auch ärmere Menschen haben das Recht auf gute Wohnungen und ein lebenswertes Umfeld.“ (MTKR 2017)

Die Kritik von Gentrifzierung droht also, zu einer Apologie der Zementierung des „schlechten Lebens“ zu werden. Dies zurückzuweisen, heißt natürlich nicht, auszuschließen, dass konkrete Prozesse der Veränderung der Stadt kritisiert werden oder pragmatisch nach Gegenmaßnahmen gesucht wird. Problematisch ist es nur, wenn dabei letztlich das Verhängnis, dass in der gegebenen Einrichtung unser Gesellschaft und unseres Wirtschaftens eine lokale Verbesserung von Lebensbedingungen systematisch zu einem verstärkten Ausschluss von diesen Orten führt, als unhinterfragte Gesetzmäßigkeit angenommen wird und das Recht auf Stadt letztlich nur noch als ein recht auf Armut verstanden wird, statt eben jene absurden Mechanismen ins Zentrum der Kritik zu rücken, die eine Verbesserung der Lebensumstände zur Gefahr für die Vulnerabelsten machen.

(3) Armes Fleisch

Jüngst ist unter Kolleginnen auf Twitter eine Diskussion darüber entbrannt, wie die Ablehnung einer zusätzlichen Besteuerung von Fleisch und Milch durch den Paritätischen Gesamtverband zu bewerten ist. Während Befürworter der Steuer sich eine Verbesserung des Tierwohls und eine Reduktion umweltschädlicher Massentierhaltung versprechen, sieht der Paritätische eine ungebührliche Belastung der Einkommensschwächsten am Werk (ZDF 2020). Während in der Diskussion nun einerseits darauf verwiesen wurde, dass Fleisch und Milch de facto Grundnahrungsmittel sind, und deren zusätzliche Besteuerung somit die ärmere Bevölkerung überproportional trifft, wurde andererseits die Vorstellung kritisiert, Billigfleisch eigne sich als sozialpolitische Mittel der Abschwächung sozialer Ungleichheit. Das Grundproblem bleibt dabei auch bestehen, wenn man sich auf die Ablehnung einer Sondermehrwertsteuer auf tierische Produkte einigt – führen doch absehbar alle strikteren Regulierungen von Tierhaltung zugunsten des Tierwohls zu einer Verteuerung der „Produkte“. Und so wird man unter gegebenen Bedingungen in die paradoxe Lage versetzt, dass jegliche ökologische und ethische Verbesserung der Lebensmittelproduktion gesellschaftliche Ungleichheit verstärkt.

Dieser Zusammenhang wird sicherlich auch strategisch eingesetzt, etwa wenn Vertreterinnen der Fleischindustrie bei jeder diskutierten Änderungen gesetzlicher Regelungen gleich apokalyptische Preisanstiege an die Wand malen (vgl. z.B. Meinke 2013) – und natürlich ist hier auch die Warnung vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch und – s. o. – dem Verlust von Arbeitsplätzen nicht fern (siehe Verband der Fleischwirtschaft 2019). Zugleich ist klar, dass die Verteuerung verbreiteter Konsumgüter auch jenseits strategischer Diskurse Folgen hat, die zwar sicher nicht als Ursache sozialpolitischer Schieflagen verstanden werden dürfen, aber diese immerhin verstärken können.

Vor diesem Hintergrund treffen beide vorgetragenen Argumente einen wunden Punkt – entscheidend ist aber, wenn man sich angesichts dessen nicht mit einem lähmenden sozial-ökologischen Schachmatt begnügen will, eben die zugrundeliegenden Verhältnisse zu kritisieren, die ökologische und ethische Verbesserungen in einen Konflikt zur Sozialpolitik bringen.

* * *

In der genannten Diskussion wird das in gewisser Weise bereits aufgegriffen, indem auf die Notwendigkeit eines Grundeinkommens verwiesen wird. Und ein Grundeinkommen könnte sicherlich den zuletzt genannten Zusammenhang zumindest abfedern, da es die ökonomisch bedingte Ungleichheit bremst. Wie die drei genannten Beispiele zeigen, lohnt sich aber über die symptomale Therapie der zeitgenössischen existentiellen gesellschaftlichen Probleme hinaus, die Frage nach der Hervorbringung nicht nur dieser Probleme selbst, sondern auch der strukturellen „constraints“, der Bedingungen und Begrenzungen ihrer Lösbarkeit zu fragen. Dafür bedarf es aber über die Kapitalismusfolgenkritik hinaus einer Kapitalismuskritik, die sich weder mit sozialtechnologischen Interventionen begnügt, noch sich als pauschale Antwort auf alle Fragen versteht, sondern die die grundlegenden Mechanismen hinter sozialen Problemen und den beschränkten Ressourcen ihrer Lösung erforscht.

Literatur

Biesel, Matthias 2017: Gentrifizierung im Revier: So hat sich die Bochumer Alsenstraße verändert, in: Der Westen, abrufbar unter: https://www.derwesten.de/staedte/bochum/gentri-was-darum-hat-sich-die-bochumer-alsenstrasse-so-veraendert-id211224859.html.

Dangschat, Jens S. 1988: Gentrification: Der Wandeln innenstadtnaher Wohnviertel, in: Friedrichs, Jürgen (Hrsg.), Soziologische Stadtforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 272–292.

Friedrichs, Jürgen 1996: Gentrification: Forschungsstand und methodologische Probleme, in: Friedrichs, Jürgen/Kecskes, Robert (Hrsg.), Gentrification. Theorie und Forschungsergebnisse. Opladen: Leske + Budrich, 13–40.

Galow-Bergemann, Lothar 2020: Klassenkampf ist zu wenig, Jungle World 4/2020, https://jungle.world/index.php/artikel/2020/04/klassenkampf-ist-zu-wenig

Hoffmann, R., Mehren, R., & Fögele, J. (2016). Gentrifizierung am Prenzlauer Berg. Eine Schülerexkursion mit Smartphones/Tablets. In Hemmer M., Mehren R. (Eds.), Thinking geographically – outside the box. Konzepte und Materialien für geographische Schülerexkursionen, Bd. 4, Gießen, https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/geographiedidaktik2/materialfuerschulen/berlin/berlin_gentrification_am_prenzlauer_berg_band_4_mit_material.pdf

MTKR 2017: Wohnungsmärkte als Gentrifizierer – Ein Beitrag zu einer Bochumer Debatte, Realize Ruhrgebiet, abrufbar unter:http://www.realize-ruhrgebiet.de/2017/09/19/wohnungsmaerkte-als-gentrifizierer-ein-beitrag-zu-einer-bochumer-debatte/.

Meinke, Ulf 2013: Fleischindustrie bereitet Verbraucher auf höhere Preise vor, in: Der Westen, abrufbar unter: https://www.derwesten.de/wirtschaft/fleischindustrie-bereitet-verbraucher-auf-hoehere-preise-vor-id8634488.html

Twickel, Christoph 2010: Gentrifidingsbums oder eine Stadt für alle, Hamburg: Nautilus.

Verband der Fleischwirtschaft 2019: Globale Auswirkungen einer rein pflanzlichen Ernährung, abrufbar unter: https://www.v-d-f.de/news/pm-20190215-0110

Whyte, William H. 1960: The Organization Man, Hamondsworth: Penguin.

ZDF 2020: Zusatzsteuer auf Fleisch – Sozialverbände lehnen Aufschlag ab, abrufbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/zusatzsteuer-auf-fleisch-sozialverbaende-lehnen-aufschlag-ab-100.html.

Zukin, Sharon 1987: Gentrification: Culture and Capital in the Urban Core, in: Annual Review of Sociology, 13, 129–147.

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