Walter Benjamin und die Revolution des Diskurses

Walter Benjamins Essay Der Autor als Produzent, in dem sich Benjamin Mitte der 1930er Jahre kritisch mit politischer Literatur auseinandersetzt und fordert, Autor*innen weniger von ihrer inhaltlichen Positionierung zu den Produktions- und Klassenverhältnissen aus zu verstehen als vielmehr von ihrer Stellung in diesen (Benjamin 2001), lässt sich auch als ein Beitrag zur Diskurstheorie lesen.

Benjamin kritisiert das inhaltliche Bekenntnis zum Proletariat, das formal folgenlos bleibt, und fordert von linken Autoren einen Beitrag zur Transformation des (intellektuellen) Produktionsapparates. Er weist die bloße Versorgung der bestehenden literarischen Institutionen mit revolutionären oder proletarischen Inhalten durch die Autoren des „Aktivismus“ zurück. Dabei spielt die Fähigkeit des intellektuellen Produktionsapparates, jegliche Botschaft, auch die gesellschaftskritische, zu absorbieren eine Rolle, die heute, angesichts des um sich greifenden popkulturellen Diskurses, in dem Beispielsweise Che Guevaras Konterfei nicht mehr als ein Modestatement ist, wohl augenscheinlicher ist denn je.

Laut Gerald Raunig (2007: 125 f.) ist hier von kritischen Intellektuellen auf zwei Weisen zu reagieren: Zum einen durch eine Verweigerung gegenüber den Anforderungen des bestehenden Apparates, die Weigerung dem „Spektakel“ intellektuelle O-Töne zu liefern. Zum anderen durch eine Transformation der Produktionsbedingungen, die der Autorschaft zugrunde liegen, selbst.

Hier drängen sich Parallelen zum Problem der Möglichkeit kritischen Sprechens im Diskurs auf. Raunig bahnt einen solchen Bezug selbst, wenn er in seiner Diskussion des Textes von Benjamin auf Überlegungen Michel Foucault und Gilles Deleuzes zurückgreift (Raunig 2007: 125–130). Weitergehend wäre aber auch nach der Relevanz für eine an Foucault anschließende (postkoloniale) Diskursanalyse zu fragen.

In gewisser Weise kann die von Benjamin kritisierte Literatur als ein Versuch gelten, von der klassischen Literatur ausgeschlossene Inhalte hörbar zu machen, indem sie innerhalb dieses Diskurses, nach seinen Konventionen, geäußert werden. Damit unangetastet bleiben dann aber die Exklusionsmechanismen, die ursprünglich dafür sorgen, dass solche Inhalte unvernehmbar sind – weil etwa das Proletariat nicht als sprech- geschweige denn literaturfähig gilt, wie etwa Jacques Rancière in seinen materialen philosophischen Studien herausgearbeitet hat (Rancière 1981, 1995). Die mangelnde Vernehmbarkeit der „Subalternen“, wie man mit Gayatri Spivak (1988) formulieren könnte, wird hier durch eine Fürsprecher-Position bearbeitet, die sich dadurch selbst die Permanenz sichert, dass sie die Mechanismen des Ausschlusses im Akt des Für-Sprechens selbst reproduziert.

Naiv wäre es nun aber anzunehmen, dass sich dies „moralisch“ lösen ließe – in dem Sinne, dass es durch die richtige Gestaltung des einzelnen Sprechaktes behebbar wäre. Hier kommt nun wiederum ein Aspekt ins Spiel, bei dem Benjamins marxistische Rahmung des Diskussion, die die Autor*in selbst als (Klassen-)Kämpfer*in im literarischen Feld versteht, vielleicht weitreichender ist, als die poststrukturalistische Debatte – lässt ihre Semantik doch die Tür offen für das praktische Problem der Organisation der Revolution des literarischen Produktionsapparates, und, in extenso, der Exklusionsmechanismen des Diskurses. Hier mag sich im Poststrukturalismus, trotz aller Kritik am Idealismus eines „herrschaftsfreien Diskurses“ ein Glaube an die Kraft des Wortes selbst einschleichen. Jedenfalls überrascht es, wenn Deleuze in seiner Diskussion Foucaults die Frage stellt: „Wenn die Macht wahrheitskonstitutiv ist, wie ist dann eine ‚Macht der Wahrheit‘ vorstellbar, die nicht mehr Wahrheit der Macht wäre, die sich von transversalen Linien des Widerstands und nicht von integralen Linien der Macht herleitet?“ (Deleuze 1987: 131f.)

Dabei finden sich bei Foucault explizite Parallelen zu Benjamin, durchaus auch in unmittelbarem Rückbezug auf marxistische Diskussionen. Die Rolle der Intellektuellen diskutierend, führt Foucault zu den „Regimen der Wahrheit“ aus, dass diese nicht bloß als ephemere Ideologie oder Überbau zu verstehen seien, sondern als grundlegende Bedingungen der Entstehung des Kapitalismus. Vor diesem Hintergrund – und dies trifft sich zentral mit Benjamins anliegen – sei es nicht die Aufgabe des Intellektuellen ideologische Inhalte zu kritisieren, sondern eine neue Politik der Wahrheit zu instituieren. Man mag ein Echo der berühmten 11. Feuerbachthese (Marx 1969), dass die Philosophen die Welt bisher nur interpretiert haben, es aber darauf ankomme, sie zu verändern, hören, wenn Foucault konstatiert: „Le probème n’est pas de changer la conscience des gens ou ce qu’ils ont dans la tête, mais le régime politique, économique, institutionel de production de la vérité“ (Foucault 1994: 160). Bezeichnender Weise endet Foucault jedoch mit diesem Gedanken, wie dies konkret zu verwirklichen ist, dazu findet man wenig Konkretes.

Nimmt man Benjamins Vorschlag ernst, so wird deutlich, dass eine solche Transformation des Produktionsapparates nicht vom individuellen Akt des Denkens und Schreibens erwartet werden kann, sondern von einer kollektiven Praxis ausgehen muss, die als Resultat einer politischen Arbeit zu erkennen wäre, statt auf spontane Emergenz zu setzen. Oder um die Foucault’sche Terminologie aufzugreifen: Es ist naiv auf die, den Intellektuellen so naheliegende, transformative Kraft einer Wahrheit selbst zu setzen, auch da, wo sie eine Wahrheit über die Prozeduren der Produktion der Wahrheit selbst ist.

Literaturangaben

Benjamin, W. (2001): Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934. in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und andere Schriften. Frankfurt a. M.: Zweitausendundeins, S. 513–527.

Deleuze, G. (1987): Foucault. Franfurt a. M.: Suhrkamp.

Foucault, M. (1994): Entretien avec Michel Foucault. In Defert, D., Ewald, F. (Hrsg.): Dits et écrits. Bd. 3: 1976–1979. Paris: Gallimard, S. 140–160.

Marx, K. (1969): Thesen über Feuerbach.: MEW. Berlin: Dietz, S. 5–7.

Rancière, J. (1995): La Mésentente. Politique et philosophie. Paris: Galilée.

Rancière, J. (1981): La nuit des prolétaires. Archives du rêve ouvrier. Paris: Fayard.

Raunig, G. (2007): Spirit and Betrayal: German „Activism“ in the 1910s.: Art and Revolution. Transversal Activism in the Long Twentieth Century. Los Angeles: Semiotext(e), S. 113–130.

Spivak, G. C. (1988): Can the Subaltern Speak? In Nelson, C., Grossberg, L. (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press, S. 271–313.

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