Schichtungen – über Gertrude Steins und Patrik Ouředníks Vermessungen des 20. Jahrhunderts

In seiner intermedialen Performance Everything that happened and would happen bezieht Heiner Goebbels sich neben Patrik Ouředníks Europeana auch auf Gertrude Steins Kriege die ich gesehen habe. Das ist zunächst überraschend, ist das Spätwerk Steins doch eine Art assoziativer Zeitzeugenbericht des Alltags während des Zweiten Weltkriegs im sog. Vichy-Regime, der zuerst 1945 erschienen ist. Diesem, zum Teil sehr persönlichen, Bericht aus der Mitte des 20. Jahrhunderts steht bei Ouředník eine Ich-lose und retrospektive Komposition von mannigfaltigen Perspektiven und Positionen entgegen. Während Steins Buch von Erfahrung lebt, von einer subjektiven Perspektive, die in ihrer assoziativen und ungefilterten Narration auch nicht von den eigenen Ressen­timents, Irrtümern und Egozen­trismen bereinigt ist, erschließt sich Ouředníks Buch eher ausgehend von einer spezifischen Form der Distanznahme – eine Reflexion und Metakritik der unzähligen intellektuellen Zugriffe auf das 20 Jahrhundert.

Warum also Ouředník und Stein zusammenbringen? Trotz der unter­schiedlichen Ausgangslagen und der nahezu konträren Positionierungen der Erzähler*in im Geschehen, ist der Rückbezug auf Stein auf verschiedenen Ebenen nachvollziehbar. An offen­sichtlichen thematisch: Immer wiederkehrend teilen beide Autor*innen die Orientierung an der ›Epoche‹ als Sinnrahmen jenseits schlichter Chronologie und Datierbarkeit. Immer wieder kommt Stein auf eine Ungleich­zeitigkeit, ein Neben­einander von 19. und 20. Jahrhunderts zurück, fragt nach dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit diesem Anfang setzt auch Ouředník an, diversifiziert ihn dabei zugleich in seinem Kaleidoskop der Perspektiven. Und während Stein aus der Mitte des Jahrhunderts schreibt, die ‚geistige Situation‘ dieser Zeit zu verstehen sucht, fragt Ouředník auch nach dem Ende dieser Epoche, das sich als Ende der Geschichte (miss-)versteht.

Neben dieser thematischen Gemein­samkeit gibt es durchaus auch Ähnlichkeiten des Stils. Beide Bücher sind durchzogen von Wiederholungen und wiederkehrenden Rückgriffen, die bisweilen den Eindruck einer Assoziativen und um sich selbst kreisenden Litanei erzeugen. Ein linearer Fortschritt des Erzählens wird hier durchbrochen. An Stelle des Nacheinanders der Ereignisse, dass den Kern der Narration ausmacht, tritt das Nebeneinander, das Aufschichten von Ereignissen. Dieses zeigt sich, sowohl bei Stein als auch bei Ouředník, ganz basal im demonstrativ einsilbigen Rückgriff auf das Und als unbestimmteste der Konjunktionen, das sich, die Elemente der Erzählung in Bewegung haltend, einer spezifischen Fixierung der Relation der Verbundenen Aussagen entzieht.

Während dies zunächst als eine ober­flächliche Ähnlichkeit erscheinen kann, ist damit tatsächlich ein Kern der Goebbels’schen Ästhetik angesprochen. In einer Anmerkung zu seiner Oper Land­schaft mit entfernten Verwandten kommt dieser explizit darauf zu sprechen:

»Mit diesem scheinbar unge­ordneten Nebeneinander von geschwätzigen Details und großen weltgeschichtlichen Vermutungen und sehr genauen politischen Beobachtungen provoziert sie das, was wir bei Poussin schon geschätzt haben: den Blick / den Focus / die Bewertung des Gesehenen durch den Leser. Daß sie uns das nicht erspart, ist ihre Qualität, die ich versuche für das Musiktheater zu übersetzen« (Goebbels 2003).

Goebbels begrüß also die Zumutung der assoziativen Kombination und Juxta­positionen im Schreiben Steins – und in extenso Ouředníks – insofern sie eine Ermutigung der Leser*in zur eigenen aktiven Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Material impliziert. Und dies ist letztlich das Leitbild Goebbels selbst. So wie Stein und Ouředník durch irreduzible Addition von Ereignissen und Perspektiven ein Lesen ›ohne Geländer‹ herausfordern, so entzieht sich Goebbels seinem Publikum gegenüber jeglicher Verein­deutigung, will die Eigenaktivität der Rezipient*in anregen, indem jegliche Redundanz, jegliche homologe Dopplung von Text, Bild, und Ton im Gestus des totalen (geschlossenen) Kunstwerks meidet und an dessen Stelle eine multi­mediale Polyphonie setzt, deren innere Struktur nur im Vollzug der Aufführung und – ganz wesentlich – nur durch Zutun der ›Zuschauenden‹ emergiert (Goebbels 2015, vgl. auch Nordholt-Frieling 2018: 26 ff.).

Literatur

Goebbels, Heiner (2003): Bildbeschreibungen, Tischgesellschaften und Komparative. Zu »Landschaft mit entfernten Verwandten« in: Stiftung Lucerne Festival (Hg.): Composers-In-Residence – Lucerne Festival, Sommer 2003: Isabel Mundry, Heiner Goebbels. Frankfurt a. M.: Stroemfeld, 111-123.

Goebbels, Heiner (2015): Aesthetics of Absence. How it all began. In Collins J (Hrsg.): Aesthetics of Absence. Texts on Theatre. London/New York: Routledge, 1-7.

Nordholt-Frieling Rasmus (2018): Die Musikalität szenischer Gefüge. Stifters Dinge als Komposition für sämtliche Bühnenkräfte. Musik-Konzepte(179), 23-39.

Ouředník, Patrik (2019): Europeana. Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert. Wien: Czernin.

Stein, Gertrude (1984): Kriege die ich gesehen habe. Suhrkamp: Suhrkamp.

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