Adorno, serviert am Häppchenbuffet

Jüngst hat der Suhrkamp Verlag eine Rede Theodor W. Adornos zum Antisemitismus und seiner Bekämpfung aus dem Jahr 1962 als Büchlein herausgegeben. Ähnlich war schon 2019 ein Vortrag zu „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ als Einzeltext herausgegeben worden. Es liegt nahe, dass diese kleinen Auskoppelungen von ohnehin verfügbaren Texten zu aktuellen Anlässen eine allgemeinere Publikationsstrategie sind und weitere Texte in ähnlicher Weise folgen werden. Und diese Publikationsstrategie scheint durchaus erfolgreich zu sein, weil sowohl 2019 als auch aktuell den Texten eine Aufmerksamkeit in den Feuilletons zukommt, die sonst unwahrscheinlich wäre.

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(K)eine Arbeitsteilung ist auch keine Lösung – zu Axel Honneths Kritik des bedingungslosen Grundeinkommens

In einem jüngst im Merkur erschienen Auszug aus seinem neuen Buch „Der arbeitende Souverän“ setzt sich Axel Honneth aus einer sozialtheoretischen Perspektive kritisch mit dem Anliegen der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens auseinander. Dabei weist er die Annahme zurück, dass das bedingungslose Grundeinkommen die Demokratisierung stärke, indem es mehr Freiraum für politischen Engagement schafft. Honneth sieht die Arbeitsbeziehungen als eine Voraussetzung für die politische Vergesellschaftung. Darum wendet er sich gegen den Versuch, Demokratisierung möglichst von der Arbeitswelt zu entkoppeln und plädiert stattdessen für eine Demokratisierung der Arbeitswelt selbst, als Grundlage kollektiver demokratischer Praxis.

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Festhalten am Unglück – über Fakir Baykurts „Hochöfen“

20 Jahre nach ihrem ursprünglichen Erscheinen sind endlich auch die ersten beiden Bände von Fakir Baykurts Duisburg-Triologie in deutscher Übersetzung erschienen. Dies ist insbesondere auch dem Engagement des Verlags Dialog-Edition und Tayfun Demirs zu verdanken. Während Baykurts Bücher sich bei türkischsprachigen Leser*innen großer Bekanntheit erfreuen, sind sie den deutschsprachigen Leser*innen weitgehend unbekannt. Obwohl Duisburg seit einigen Jahren einen Fakir Baykurt Kulturpreis vergibt, war aus der nach der Stadt benannten Triologie bis im letzten Jahr nur der dritte Band „Halbes Brot“ auf deutsch erschienen.

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Prekäre Soziologie

Bericht zur Veranstaltung: Soziologie als Beruf – zwischen gesellschaftlicher Relevanz und Prekarität, DGS Kongress, Bielefeld, 29.9.2022, 19–21 Uhr.

Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sind kein Nischenthema mehr. Ihre Thematisierung gehört inzwischen zum guten Standard großer Fachkonferenzen. In der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wird dieses Thema inzwischen dauerhaft vom Ausschuss „Soziologie als Beruf“ bearbeitet. Auf dem diesjährigen DGS-Kongress haben Heike Delitz, Birgit Blättel-Mink, Ina Krause, Cedric Jürgensen, Nina Weimann-Sandig, Paul Sinzig und Sebastian W. Hoggenmüller für den Ausschuss die Veranstaltung „Soziologie als Beruf – zwischen gesellschaftlicher Relevanz und Prekarität“ organisiert. Trotz der späten Stunde nach einem langen Konferenztag, konnte sich die Veranstaltung über ein reges Interesse freuen. Der Altersschnitt legt nahe, dass sich leider allerdings wenige Professor*innen in die Veranstaltung verirrt haben. Trotz der dauerhaften Verankerung des Themas in den Gremien der DGS, scheint hier noch einige Arbeit nötig zu sein, damit es nicht nur als spezifisches Interesse des „Nachwuchses“ aufgefasst wird, sondern als Thema, dass in der Gestaltung der Bedingungen soziologischer Forschung und Lehre für alle Soziolog*innen mittelbar relevant ist.

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Übersetzt Fakir Baykurt!

Nachtrag 2.1.2023: Inzwischen sind mit Hochöfen und Vater Rhein auch die ersten beiden Bände der Duisburg-Trilogie in deutscher Übersetzung im Verlag Dialog-Edition erschienen.

Fakir Baykurt gilt als wichtiger Autor der Literatur türkischer Arbeitsmigrant*innen in Deutschland. In Duisburg hat man einen Preis nach ihm benannt, der seit 2014 für besondere Leistungen im interkulturellen Miteinander vergeben wird. Auch einen Platz ihm zu Ehren gibt es in der Stadt, in der Baykurt die letzten 20 Jahre seines Lebens verbracht hat. Aber, obwohl das Leben im Ruhrgebiet ein zentrales Thema in seinem späten Werk darstellte, ist nur wenig davon ins Deutsche übersetzt worden. Bis heute ist nur eins der Bücher seiner Duisburg-Trilogie auch den Deutschen zugänglich, die kein Türkisch sprechen. Und wie andere seiner früheren Romane ist es lediglich antiquarisch zu erwerben. Auch bei Nachfrage bei der Buchhändler*in konnten keine aktuellen Auflagen aufgetrieben werden. Es ist geradezu absurd (und leider zugleich wohl bezeichnend), dass Baykurt einerseits deutliche Anerkennung für seine Auseinandersetzung mit der Realität von Arbeitsmigrant*innen in Deutschland erfährt, andererseits nicht genug Interesse aufgebracht wird, um sein Werk auch der deutschsprachigen Leser*innenschaft zugängig zu machen.

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Wider den Toleranzformalismus – Anmerkungen zu M. Revers & R. Traunmüller: „Is Free Speech in Danger on University Campus?“

Die Diskussionen um Cancel Culture, Meinungskorridore und einen vermeintlichen repressiven Moralismus von Links sind in den letzten Monaten heiß gelaufen. Dabei ist nicht zuletzt die Universität als Schauplatz solcher Auseinandersetzungen ausgemacht worden, was in besonderem Widerspruch zu ihrem Anspruch als Ort des freien Denkens und des ungehinderten Meinungsaustauschs gesehen wird. Eine Studie von Matthias Revers und Richard Traunmüller tritt nun an, diesen Streit empirisch zu erden. In einer Umfrage unter Studierenden der Universität Frankfurt, die sie als „a most likely case for PC culture“ (Revers/Traumüller 2020: 491) sehen, machen sie eine Intoleranz gegenüber abweichenden (und das heißt insbesondere: nicht linken) Sichtweisen sowie eine Selbstzensur von Studierenden aus. Allerdings hat die Anlage der Studie viele deutliche Lücken. Die Rolle als neutrale wissenschaftliche Empiriker, die Rovers und Traunmüller für sich in Anspruch nehmen, bröckelt mit Blick auf die Rahmung und Vorannahmen des Artikels.

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Ein Blick ins Schwarze Loch – Anmerkungen zu Anja Jonuleits Roman „Rabenfrauen“ über die „Colonia Dignidad“

In ihrem Roman „Rabenfrauen“ nähert sich Anja Jonuleit der Entstehung und dem Innenleben der „Colonia Dignidad“ an. Die „Colonia Dignidad“ war eine in den 1960ern in Chile gegründete Siedlung rund um den evangelikalen Sektenführer Paul Schäfer, der die Sektenmitglieder einer Gehirnwäsche unterzog, sie hat foltern und mit Medikamenten ruhigstellen lassen, der nicht zuletzt fortwährend minderjährige Jungen vergewaltigte und die Siedlung letztlich auch zur Folterstätte für die Militärdiktatur Pinochets ausgebaute. Eine häufig gestellte Frage, die auch der Roman Jonuleits aufgreift: Wie konnte es sein, dass Menschen sich freiwillig in die gefängnisähnliche totalitäre Struktur der Sekte begeben haben? Wie konnte es insbesondere auch sein, dass Ehepartner sich haben isolieren lassen und Eltern sich von Kindern trennen ließen?

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Schichtungen – über Gertrude Steins und Patrik Ouředníks Vermessungen des 20. Jahrhunderts

In seiner intermedialen Performance Everything that happened and would happen bezieht Heiner Goebbels sich neben Patrik Ouředníks Europeana auch auf Gertrude Steins Kriege die ich gesehen habe. Das ist zunächst überraschend, ist das Spätwerk Steins doch eine Art assoziativer Zeitzeugenbericht des Alltags während des Zweiten Weltkriegs im sog. Vichy-Regime, der zuerst 1945 erschienen ist. Diesem, zum Teil sehr persönlichen, Bericht aus der Mitte des 20. Jahrhunderts steht bei Ouředník eine Ich-lose und retrospektive Komposition von mannigfaltigen Perspektiven und Positionen entgegen. Während Steins Buch von Erfahrung lebt, von einer subjektiven Perspektive, die in ihrer assoziativen und ungefilterten Narration auch nicht von den eigenen Ressen­timents, Irrtümern und Egozen­trismen bereinigt ist, erschließt sich Ouředníks Buch eher ausgehend von einer spezifischen Form der Distanznahme – eine Reflexion und Metakritik der unzähligen intellektuellen Zugriffe auf das 20 Jahrhundert.

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Permutationen der Geschichte – Anmerkungen zu Patrik Ouředníks „Europeana“

Anlässlich der Leipziger Buchmesse, bei der 2019 Tschechien Gastland war, hat der Czernin Verlag in diesem Jahr das Buch Europeana wieder aufgelegt. In dieser, zuerst im Jahr 2001 auf tschechisch erschienen, „kurzen Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert“, wie es im vom Verlag gewählten Untertitel heißt, legte der in Tschechien geborene und seit den 1980er Jahren in Frankreich lebende Schriftsteller und Übersetzer Patrik Ouředník weniger eine Conclusio über das gerade numerisch abgeschlossene Jahrhundert vor, als vielmehr dessen Rohform offenzulegen und die Unabgeschlossenheit seiner zum Teil widerstreitenden Deutungen sichtbar zu machen. Vermutlich ist es nicht zuletzt diese Offenheit des Buches, die seine anhaltende Brisanz und Produktivität gerade auch in den letzten Jahren erklärt. So ist 2018 eine Theaterfassung des Textes als Gastspiel eines Prager Theaters in Hannover aufgeführt und in diesem Jahr hat Heiner Goebbels in seiner multimedialen Inszenierung Everything that happens and could happen im Rahmen der Ruhrtriennale maßgeblich auf Ouředníks Text zurück gegriffen.

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Die Sehnsucht nach dem Selbst – Anmerkungen zu Ramón Sender Barayóns „Ein Tod in Zamora“

Im Gefolge der Postmoderne ist es heute üblich, auf die Fragmentiertheit und Brüchigkeit des Selbst hinzuweisen. Dies ist zunächst einmal deskriptiv durchaus angemessen. Die Kritik des geschlossenen und einheitlichen Subjekts hat durchaus eine Tradition – zu denken ist etwa an Nietzsche, Freud, aber auch Erikson. Heute scheint bei der Thematisierung der inneren Heterogenität und Unabgeschlossenheit des Subjekts neben einer deskriptiven Dimension aber auch eine normative Dimension eine Rolle zu spielen. Ein Subjekt kann gar nicht anders als konstitutiv plural und offen zu sein, diese Eigenschaften sind darüber hinaus aber auch wünschenswert. Sie stellen eine Befreiung von fixierten sozialen Zuschreibungen und deren Verinnerlichung dar.

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