Omniprovinzialität

„Denn die Welt als Ganzes ist ja im Grunde genommen Provinz. Städte wie New York, Paris oder Berlin sind nur kleine Ausuferungen, das sind eigentlich Zusammenfassungen von Provinzen. Die Provinzler haben die als Nest genommen und behaupten, wir sind keine Provinz. Gelogen! Die Provinz ist im Kopf. Egal, wo man hinkommt, überall ist Provinz.“

Helge Schneider

Heldengedenken

Vor einer Woche habe ich, irritiert durch einen von der Stadt Mainz gesponsorten Kranz am Denkmal für die 1914 vor Helgoland versenkte SMS Mainz, eine kleine Mail mit zwei Fragen an die Stadtverwaltung geschickt. Da bisher keine Antwort kam, erlaube ich mir mal, sie hier öffentlich zu machen.

„Sehr geehrte Damen und Herren,

am heutigen Tag ist mir aufgefallen, dass die Stadt Mainz zum sog. Volkstrauertag einen Kranz am Denkmal für die im ersten Weltkrieg gesunkene SMS Mainz am Adenauerufer abgelegt hat. Dies irritiert mich angesichts der Aufschrift der Säule.

Ich möchte deshalb nachfragen, ob die Stadt Mainz

1) den Einsatz der SMS Mainz als „künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung“ empfohlen ansieht, und ob sie

2) die Einschätzung teilt, dass die deutsche Marine im ersten Weltkrieg die „Wahrung des Rechts“ anstrebte und für den „Frieden der Welt“ kämpfte?“

Ich bin mal gespannt, ob ich noch mit einer Antwort rechnen darf.

21.1.2013: Die Antwort ist inzwischen eingetroffen und findet sich hier.

Ansehen Deutschlands

„‚Allen muß klar sein, daß wir uns als exportorientiertes Land Ausländerfeindlichkeit überhaupt nicht leisten können.‘ Zwanzig Jahre nach Gremlizas korrekter Einordnung deutscher Lichterkettenseligkeit (‚300 000 Exportabhängige, die vor aller Welt ihre Liebe zum Ausländer feierten‘) fand nun auch die standortfreundliche Frankfurter Allgemeine derlei Drecksgesinnung ‚höchst irritierend‘: ‚Selbst wenn aus dem NSU Desaster die richtigen Konsequenzen gezogen werden, bleibt der Eindruck einer befremdlichen Logik, die nun nicht zum erstem Mal bemüht wird. Anschläge auf Leib und Leben (ausländischer) Menschen sind hierzulande vor allem Anschläge auf das Ansehen Deutschlands.‘ Und Anschläge auf das Ansehen Deutschlands sind Anschläge auf Friedrich selbst, der seine Frau zwar liebt, den Staat aber mehr.“

Stefan Gärtner, in der Titanic 397

Horror vacui proletarii

Das Argument, dass wir immer noch in einer Klassengesellschaft leben, trifft ebenso zu, wie es falsch ist. Zweifelsohne stimmt der Hinweis, dass bei Marx Klassen formell über die Stellung im Produktionsprozess bestimmt sind und dass sich heute immer noch ein erheblicher Teil der Menschen durch den Nicht-Besitz an Produktionsmitteln auszeichnet. Aber dieser Punkt wird erkauft, indem man die Marxsche Theorie zu einer formellen degradiert. „Horror vacui proletarii“ weiterlesen

Idylle

… – im Übrigen möchte ich wenn ich die hiesige Idylle sehe, die doch rein auf Caffésäckchen, Theekisten, Häringstonnen und Ölflaschen basirt, Mordbrenner werden und mit der Brandfackel durchs Land ziehn!

Jenny Marx

Invisibilisierung der Welt

Erkenntnis dient, wie in anderer Weise auch Kunst, der Invisibilisierung der Welt als des „unmarked state“, den Formen nur verletzen, aber nicht repräsentieren können.

Niklas Luhmann
Die Wissenschaft der Gesellschaft

schwarz-rot-gold

Ein kleines Gedicht von Heinrich Heine, das allen zur Lektüre zu empfehlen ist, die bei der Diskussion  um die deutsche Nationalfahne deren ach-so-demokratische Bedeutung betonen zu müssen meinen.

Michel nach dem März

Solang ich den deutschen Michel gekannt,
War er ein Bärenhäuter;
Ich dachte im März, er hat sich ermannt
Und handelt fürder gescheuter.

Wie stolz erhob er das blonde Haupt
Vor seinen Landesvätern!
Wie sprach er – was doch unerlaubt –
Von hohen Landesverrätern.

„schwarz-rot-gold“ weiterlesen

Evolution ohne Telos

Nietzsche beginnt seinen Aphorismus Falsche Schlüsse aus der Nützlichkeit mit der Bemerkung:

„Wenn man die höchste Nützlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklärung ihres Ursprungs getan: das heißt, man kann mit der Nützlichkeit niemals die Notwendigkeit der Existenz verständlich machen. Aber gerade das umgekehrte Urteil hat bisher geherrscht – und bis in die Gebiete der strengsten Wissenschaft hinein.“ (Morgenröte, § 37)

Und viel zu oft herrscht es immer noch – auch gerade da, wo es am wenigsten gelten dürfte, in der evolutionären Biologie. Die Disziplin, deren moderne Begründung einst mit dem radikalen Zurückweisen jeglicher Teleologie anhob, dient populärwissenschaftlich zur ‚Erklärung‘ von heutigem (vermeintlichem) Sosein mit in imaginäre Vorzeit projizierten Um-Zu-Relationen. Dem Mann ist der Orientierungssinn gegeben, damit er sich auf der Jagt zurechtfinde. Diese Begründungsstruktur zieht sich dabei bis in die Wissenschaft im engeren Sinne fort, die allzuoft den Gedanken des von hinten getriebenen Prozesses der Evolution – wenn auch differenzierter und weniger plump – durch eben jene Um-Zu-Relationen ersetzt.

Nietzsche, Friedrich 1960: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, München: Goldmann.

Dialektik des Modernismus

Ein nicht unerheblicher Teil aktueller Diskussionen krankt an einem oberflächlich dialektischem Denken. Sie hangeln sich von abstrakter Negation zu abstrakter Negation. Aus den Fehlern des Modernismus lernte man mit einem derben Antimodernismus, dessen esoterische Auswüchse wiederum einen trotzigen Modernismus befeuerten. Demgegenüber wäre ein negativ-dialektisches Denken stark zu machen, dass trotz des Einwandes der Antithese die These nicht zum Feind erklärt, sondern an ihrem wahren Moment festhält. – Die Kunst ist es weder der Willkürherrschaft des Antimodernismus, noch der überheblichen Selbstgefälligkeit des Modernismus beizugeben.

Pudel ohne Kern

Es ist erstaunlich, als was für eine Sensation einem eine Zigarettenverpackung verkauft werden kann. In der sich am zum allgemeinen Chic gewordenen Comic-Ästhetik orientierenden Werbekollage, aus der die Zigaretten(schachtel) schräg herausragend sich uns anbieten, wird die Omnipotenz dieses Hightech-Pappquaders demonstriert. „Von 0 auf 19 in 1 Sekunde“ raunt uns der Qualmferrari an. Und geballter Raucherpotenz (trotz „Rauchen kann die Spermatozoen schädigen und schränkt die Fruchtbarkeit ein“) gesellt sich noch die postfuturistische Hochtechnisierung bei: „JPS Glide Tec.“. „Pudel ohne Kern“ weiterlesen