Die Diskussionen um Cancel Culture, Meinungskorridore und einen vermeintlichen repressiven Moralismus von Links sind in den letzten Monaten heiß gelaufen. Dabei ist nicht zuletzt die Universität als Schauplatz solcher Auseinandersetzungen ausgemacht worden, was in besonderem Widerspruch zu ihrem Anspruch als Ort des freien Denkens und des ungehinderten Meinungsaustauschs gesehen wird. Eine Studie von Matthias Revers und Richard Traunmüller tritt nun an, diesen Streit empirisch zu erden. In einer Umfrage unter Studierenden der Universität Frankfurt, die sie als „a most likely case for PC culture“ (Revers/Traumüller 2020: 491) sehen, machen sie eine Intoleranz gegenüber abweichenden (und das heißt insbesondere: nicht linken) Sichtweisen sowie eine Selbstzensur von Studierenden aus. Allerdings hat die Anlage der Studie viele deutliche Lücken. Die Rolle als neutrale wissenschaftliche Empiriker, die Rovers und Traunmüller für sich in Anspruch nehmen, bröckelt mit Blick auf die Rahmung und Vorannahmen des Artikels.
Die Studie muss zweifelsohne vor diesem Hintergrund der genannten regen öffentlichen Diskussion um die Einschränkung von Meinungsfreiheit gelesen werden, die lange unter dem Label der Political Correctness und zuletzt verstärkt dem einer vermeintlichen Cancel Culture verhandelt wurde. Grundtopos ist dabei im Wesentlichen, dass diejenigen, die für sich den Kampf für Toleranz und Pluralismus in Anspruch nehmen, selbst zunehmend intolerant und anti-pluralistisch agierten, weil sie als rassistisch, sexistisch, homophob, antisemitisch etc. aufgefasste Äußerungen unterbinden wollten. Revers und Traunmüller beziehen sich dementsprechend explizit auf einen „Trend“ zum Absagen von Veranstaltungen mit umstrittenen Redner*innen und zur Maßreglung von Mitarbeiter*innen an Universitäten, für den es plausible Hinweise auch in Deutschland gebe (Revers/Traumüller 2020: 475 f.). Entsprechende Diskussionen um eine vermeintlich links-liberale Meinungshegemonie wurden an amerikanischen Universitäten spätestens seit den 1990ern geführt, so dass Deutschland hier als Nachzügler einer weitreichenden Tendenz erscheint.
Den zunächst „neutral“ wiedergegebenen unversöhnlich entgegengesetzten Diskurspositionen, von denen, die einen solchen Trend zur Intoleranz als bloßen Mythos, als rechtes Phantasma erleben und jenen, die ihn als An- und Vorzeichen einer „dire future of freedom of speech“ wahrnehmen, wollen Revers und Traunmüller nun klärend empirische Ergebnisse entgegenstellen (Revers/Traumüller 2020: 477). Allerdings lädt ihre Darstellung – trotz einiger selbst eingeschobener Disclaimer zur methodischen Begrenztheit der Aussagekraft – zu Fehlinterpretationen ein. Und so verwundert es nicht, dass der Artikel in ersten Zeitungsberichten und Reaktionen schnell zur Bestärkung einer generalisierten vorgefertigten Überzeugung herangezogen wurde, die sich einer schleichend um sich greifenden linken Meinungsdiktatur und des Verfalls von Wissenschaft gegenüber sieht. Auf der anderen Seite des von Revers und Traumüller beschriebenen dichotomen Meinungsspektrums zum Thema sammeln sich dagegen Kritiken an methodischen und argumentativen Schwächen des (immerhin in der renommierten Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienenen) Artikels.
Es lässt sich im Einzelnen sicher viel an der Umsetzung der Studie und der Reichweite ihrer Schlussfolgerungen kritisieren. Ich möchte hier auf zwei Aspekte konzentrieren, die mir von systematischerer Relevanz zu sein scheinen. Auch wenn ich zugegebenermaßen „Political Correctness” und „Cancel Culture” tatsächlich eher für Diskursfiguren halte als für zutreffende Problembeschreibungen, ist meine Hoffnung, dass mein methodischer und mein konzeptioneller Einwand auch eine Chance haben, bei denen anzukommen, die gerade nicht dieselbe Position vertreten wie ich.
1. Sind die Ergebnisse Warnsignale für eine gefährliche Entwicklung?
Auch wenn Revers und Traunmüller in ihrer Erhebung eine Mehrheit ausmachen, die grundsätzlich Meinungsrestriktionen ablehnen, konstatieren sie auf Grundlage ihrer Umfragedaten (die, wie selbst zugestanden, als alles andere als solide gelten müssen; Revers/Traunmüller 2020: 479 f.) in Einzelaspekten doch eine mehrheitliche „intolerante“ Haltung. Daraus leiten sie die Aufforderung ab, die „concerns about a restrictive discursive climate on university campuses“ ernst zu nehmen und konstatieren: „we should heed these warning signs and carefully consider their implications“. Wenn in der Rahmung des Artikels von einer Tendenz zur zunehmenden Intoleranz ausgegangen wird, und Warnsignale letztlich auch ein Vorgriff auf noch schlimmere Zustände zumindest andeutet, so wundert nicht, dass in den ersten Besprechungen des Artikels hier recht eindeutig Aussagen zur bedrohlichen Entwicklung herausgelesen werden. So heißt es in einem auf die Studie Bezug nehmenden Artikel aus der FAZ:
„Zwar ergab die Studie immer noch [!] eine liberale Mehrheit, doch die große Zahl derer, die keine abweichenden Meinungen aushalten, werten die Autoren als Hypothek für eine Institution, die auf dem freien Austausch der Argumente beruht, und als besorgniserregenden Befund für die Sozialwissenschaften“ (Thiel 2020, Herv. von mir).
Dabei stellen Revers und Traunmüller – wenn auch eher beiläufig –fest, dass ihre Daten, die eine Momentaufnahme ohne methodisch kontrollierten Referenz erheben, sich keinesfalls für empirisch begründete Tendenzaussagen eignen:
„In addition, owing to the cross-sectional nature of our survey data we were only able to present a snapshot of the current climate on the university campus. We therefore cannot say whether the current situation is new or whether it has become worse over the recent years“ (Revers/Traunmüller 2020: 492).
Sicher kann man den Autoren nicht die Fehlinterpretation ihrer Studie vorwerfen. Allerdings Situieren sie ihre Studie selbst als empirische Antwort auf eine Diskussion, die ganz maßgeblich von einer Tendenzerzählung lebt: der bedrohlichen Entwicklung eines sich immer stärker verengenden Meinungskorridors. Angesichts dieses Anspruchs ist der Studienzuschnitt nicht sehr gelungen um der Geste einer empirischen Klärung zu entsprechen. Zumindest aber wäre deutlicher herauszustellen gewesen, dass man dazu, ob dies bedrohliche Entwicklungen sind, gar nichts sagen kann (und somit nicht wirklich weiß, ob es sich hier um „Warnsignale“ handelt).
Nun liegt es nahe einzuwenden, dass das beobachtete Ausmaß an Intoleranz ja auch ohne Verschlimmerung des Zustandes schon schlimm genug ist. Dies führt mich zu meinem zweiten Punkt, der eher konzeptioneller als methodischer Natur ist.
2. Toleranzformalismus, oder: hat Toleranz beliebige Objekte?
Der Toleranzbegriff ist bei Revers und Traunmüller formalistisch angelegt. Wogegen „Toleranz“ gezeigt wird, ist für sie erst einmal relativ gleichgültig dafür, ob es sich um Toleranz handelt. Über die Sinnhaftigkeit einer solchen Anlage kann man sich sicherlich legitimerweise streiten. Ich versuche zu erklären, warum sie mich nicht überzeugt.
Die Autoren referieren Langzeitstudien auf Grundlage des General Social Survey, die über die Zeit eher eine Zunahme von Toleranz feststellen. Sie folgen jedoch der Kritik an diesen Langzeitstudien, die darauf verweist, dass die Themen und Personengruppen über die Toleranz erhoben wird (z. B. Sozialist*innen, Atheist*innen und Homosexualität), über die Zeit ihren Stellenwert verändert haben und nicht mehr – so ein zentrale Begriff ihrer Argumentation – „kontrovers“ seien. Entsprechende Kategorien seien „virtually meaningless for the study of intolerance among university students, especially those on the left“ (Revers/Traunmüller 2020: 478).
Revers und Traunmüller sind also nach der Suche nach neuen „kontroversen“ Themen, und zwar insbesondere solchen, die die Linke kritikwürdig finden. Entsprechend passen sie die „targets of intolerance“ an (Revers/Traunmüller 2020: 478) an von ihnen als umstritten gefasste Themen an, so dass Toleranz gegenüber „viewpoints that focus on controversial ideas about gender equality, sexual identity, immigration, and Islam“ (Revers/Traunmüller 2020: 481) im Fokus steht. Tolerant ist also jetzt z. B., wer die Äußerung dulden will, dass es natürliche Begabungsunterschiede zwischen den Geschlechtern gibt; oder die allgemeine Ablehnung jeglicher Migration hinnimmt; oder meint, dass die Meinung, dass Homosexualität immoralisch und gefährlich sei, an der Universität vertreten werden dürfen muss …
Hier wird der Gegenstand von Toleranz offensichtlich als beliebig austauschbar verstanden. Aber ist es sinnvoll, Toleranz gegenüber Homosexualität mit Toleranz gegenüber Rassismus gleichzusetzen? Ist Toleranz wirklich untangiert davon, worauf sie sich richten soll? Ob sie sich auf die Existenz des Fremden oder auf dessen Vernichtung richtet? Ich sehe das nicht so. Jedenfalls sehe ich nicht, wieso ich einen solchen entleerten Toleranzbegriff ohne weitere Begründung annehmen sollte.
Dabei möchte ich gar nicht leugnen, dass sich wandelt, welche Themen und Menschengruppen besonders relevant für die Frage nach dem Stand gesellschaftlicher Toleranz sind. Das Kriterium der „Kontroversität“ führt allerdings dazu, dass Toleranz zum guten Teil entwertet wird: sie gilt nicht mehr, wenn sie sich durchsetzt. Dadurch wird aber das Ergebnis einer vermeintlich grassierenden Intoleranz schon in der Operationalisierung eingebaut. Da wir letztlich bei den „alten“ Themen zu einhellig tolerant geworden sind, sucht man sich „umstrittene“ Themen und findet heraus, dass diese hart umkämpft sind. Was ist aber, so könnte man fragen, der übergreifenden Horizont, vor dem sich dann ein mehr oder weniger von Toleranz noch abzeichnen würde? Man könnte auch fragen: in welcher Situation könnte man auf diese Weise nicht Belege für grassierende Intoleranz generieren? Erst wenn alles unbeschränkt sagbar ist? Das wäre jedenfalls ein äußert naiver Begriff von Meinungsfreiheit (bei dem dann spätestens die Lektüre von Foucault empfohlen werden müsste).
Ich will nun nicht behaupten, dass Revers und Traunmüller eine solche Vorstellung absolut unbegrenzter Rede als normativen Horizont vertreten. Aber er ist in ihrer Verwendung von „Toleranz“, als etwas, das sich auf beliebige Objekte richten kann, angelegt. Letztlich bedürfte es eines nicht-formalistischen, qualifizierten Toleranzbegriffs, um dem zu entgehen.
Darüber hinaus ist die Wahl der Objekte, die dem Artikel zugrunde liegt, selbst keineswegs „politisch neutral“. Das deuten Revers und Traunmüller selbst an (Revers/Traunmüller 2020: 492). Was für Diskussionen sind in der Wahl der „kontroversen“ Toleranzobjekte (Ansichten zu Geschlecht, sexueller Orientierung, Migration, Islam) implizit? Ist hier nicht schon schwerpunktmäßig Kritik von „links“ im Fokus? Warum fragt man bspw. nicht nach dem „Meinungskorridor“ bei Inzest und Kannibalismus? Hier steht die vermeintlich diskussionsklärende empirische Forschung letztlich in der Gefahr, konzeptionell lediglich die Annahmen und Aufmerksamkeitsregime einer öffentlichen Diskussion zu reproduzieren und als deren zirkulärer Verstärker zu wirken.
Es wäre wünschenswert, dass Revers und Traunmüller in der im Fazit des Artikels angeregten Erweiterung und Verbesserung der Studie, nicht nur an einer Ausweitung des Befragtenkreises und dem methodischen Feinschliff arbeiten, sondern sich mit den grundsätzlichen konzeptionellen Schwierigkeiten auseinandersetzen, die insbesondere ihr formalistischer Toleranzbegriff mit sich bringt. Dies würde vermutlich auch helfen, einige Aussagen, die sich mit etwas Distanz als nahezu absurd lesen, zu überdenken. So heißt es etwa (um nur ein Beispiel zu nennen) im Text:
„Right-leaning students were more tolerant of controversial opinions about gender, homosexuality, immigration, and Islam than their left-leaning counterparts“ (Revers/Traunmüller 2020: 492).
Nach dieser Konstruktion kann man wohl so ziemlich jede politische Position als Tolerant adeln, wenn man sich nur die richtige Referenz sucht.
Literatur:
Revers, Matthias/Traunmüller, Richard 2020: Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case. Kölner Zeitschrift für Soziologie, 72, 3, 471–497.
Thiel, Thomas 2020: Toleranz im geschlossenen Zirkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. November 2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/toleranz-studie-ueber-meinungsfreiheit-an-hochschulen-17044294.html.