„Und 1989 entwickelte ein amerikanischer Politikwissenschaftler eine Theorie über das Ende der Weltgeschichte. … Doch viele Leute wussten nichts von dieser Theorie und schrieben weiterhin Geschichte, als sei nichts passiert.“ Mit diesem Zitat aus Patrik Ouředníks Roman „Europeana“ schließt Heiner Goebbels seine im Rahmen der Ruhrtriennale am 23. August 2019 uraufgeführte Inszenierung „Everything that happend and would happen“. Dieses Zitat kann aber zugleich auch als Ausgangspunkt der installativen Performance gelten, die sich – unter Rückgriff auf den Roman Ouředníks, Bildern des Euronews Programms „No Comment“ und Bühnenelementen der Aufführung von John Cages „Europeras 1 & 2“ bei der Ruhrtriennale 2012 – mit der (Un-)Möglichkeit einer Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. Mit dem von Ouředník ausgewiesenenen „Nicht-Ende“ der Geschichte entzieht sich diese auch einer einheitlichen Geschichtsschreibung, die sich aus der rückblickenden Beschreibung von einem Ende aus und auf dieses hin darstellen ließe. Kurz: weil Geschichte weitergeht, gestritten und gekämpft wird, musste Perspektivierung des Gewesenen plural bleiben. Weil Geschichte nicht endet, bleibt sie offen und kommt ihre Beschreibung zu keinem Abschluss.
Diese Unabgeschlossenheit vollzieht sich in der Aufführung im Nebeneinander und Übereinander. Ihren ersten visuellen Ausdruck finden das Nebeneinander in der Zerstreuung der fünf Instrumentalist*innen auf isolierte und räumlich verteilte ‚Inseln‘, bevor noch die Inszenierung sich durch eine allmähliche Enthüllung der Bühnenelemente in ihren Anfang ‚schleicht‘. Das Übereinander, dass immer wieder in der Projektion von Bildern auf Elemente des Bühnenbilds auftritt, kulminiert schließlich in einer Be- und Überdeckung der Bühne mit großen Stoffplanen, in ihrer rauschhaften Schichtung und Faltung.
Der Text Ouředníks ist auf seine Weise durch ein Nebeneinander geprägt. Er ist betont additiv. Seine Konjunktionen entzieht sich schon grammatikalisch einer Hierarchisierung der Ereignisse und Perspektiven. Besonders deutlich wird dies an einer Stelle, an der die „Polyphonie“ der Stimmen letztlich von jedem Inhalt abgelöst wird, so dass ein schier unendliches ‚he said, she said‘ entsteht, das sich letztlich auf den Akt der Benennung des Sprechens und der Sprecher*innen beschränkt. Manche Historiker*innen sagten und andere Historiker sagten.
Bemerkenswert ist dabei, dass diese Überlagerung der Stimmen ihre in Szene gesetzte Pluralität keineswegs der Vernehmbarkeit individueller Stimmen verdankt. Trotzt Mehrsprachigkeit und Multimodalität kommen im Gewimmel der Sprache letztlich immer nur Gruppen zu Wort. Die Vielstimmigkeit des Textes ruht so, trotz Mehrsprachigkeit und Multiperspektivität, auf einer weitgehenden Homogenisierung der Stimmen zu sprechfähigen Kollektiven auf. Ein Prozess, dessen Machtförmigkeit seinerseits verdiente, vernehmbar gemacht zu werden.
Die von Klaus Grünberg entworfenen Bühnenelemente, die Goebbels’ Inszenierung der Metaoper „Europeras 1 & 2“ von John Cage aus dem Jahr 2012 entnommen sind, bilden sozusagen ein weiteres Fraktal, das die Performance durchzieht. Während Cage die europäische (Opern-)Tradition durch aleatorische Kombinatorik in ein nihilistisches Chaos stürzt, während er Sinn durch seine Kompression implodieren lässt, eröffnet „Everything that happens and would happen“ wiederum aus den Elementen dieser Dekonstruktion, ja Destruktion, die Möglichkeit eines Sinns. Die Form changiert hier zwischen Zufallskombination und einer Konstellation, in der das Fragmentarische eine Bedeutung ‚aufblitzen‘ ließe, ohne jemals in eines von beiden aufgelöst werden zu können. Wenn „Everything that happens and could happen“ auf Sinn hin geöffnet ist, dann gerade nicht auf ‚vermittelten‘ Sinn, also auf die pädagogische Übertragung einer vorgegebenen Deutung, sondern einen vom Publikum selbst gestifteten. Die Inszenierung ist „ein Raum für Imagination und Reflexion, in dem die Konstruktion von Sinn jedem selbst überlassen ist“, so Goebbels selbst.
Das ist nun aber nicht mit einer Auflösung von Geschichte in Privatdeutungen zu verwechseln – so als wäre das Theater geschichtspolitisch auf einen demokratisierten Geschichtsrevisionismus ausgelegt, in dem jeder und jede die Geschichte aus freien Stücken erfinden könnte. Entscheidend ist gerade, dass Goebbels eben einen gemeinsamen Raum solcher Juxtapositionen und Superpositionen schafft, einen geteilten Ort der Imaginationen und Konstruktionen. Wenn er sich einer autoritativen Vorgabe der Deutung zugunsten der „Freiheit“ der Zuschauerinnen entzieht, vertraut er geleichzeitig darauf, dass die Kommunikation des Differenten, die nicht-redundante Verbindung von Musik, Bühnengestaltung, Performance etc., Sinnbildungsprozesse erlauben, ja, sie anregen. Behält man dies im Gedächtnis, dann läuft dies erkennbar nicht auf das Ideal einer individuierten Zuschauerinn hinaus, die den Sinn des Geschehenen allein mit sich selbst ausmachen muss. Vielmehr ließe sich der Ermöglichungscharaker der Inszenierung selbst aufs Publikum erweitern. Die Inszenierung regt nicht nur Imaginationen und Konstruktionen an, sie öffnet ganz wesentlich auch ein Raum, in dem diese wiederum in Verbindung miteinander treten können. Daraus ergibt sich dann nicht das Leitbild einer Perspektivgleichheit oder eines Deutungskonsens’ und ganz sicher nicht die Idee einer hierarchisch ‚Deutungshoheit‘. Ebenso wenig benötigt die Wahrung der „Freiheit“ des Publikum aber ein Sprechverbot, um die individuellen Sinnbildungen zu wahren. Naheliegend wäre stattdessen vielmehr die Kommunikation der Sinnkonstruktionen im Spannungsfeld von Nebeneinander und Miteinander wahrzunehmen.
Heiner Goebbels: Everything that happens and would happen, Uraufführung im Rahmen der Ruhrtriennale 2018–2019, 23. bis 26. August 2019, Jahrhunderthalle Bochum
Eine Antwort auf „Die (Un-)Möglichkeit der Geschichte – Anmerkungen zu Heiner Goebbels’ „Everything that happens and would happen““