Glaube – im bessren religiösen wie im irreligiösen Sinne – ist Bejahung des Horizonts. Also solches steht er dem Zweifel nicht entgegen. Der Zweifel navigiert ausgehend von ihm, wenn er nicht zu einer endlosen Irrfahrt werden will.

Paradoxien des Antiwokeismus

In ihrer kleinen korpusanalytischen Studie zum Wort „woke“ in Zeitungs- und Twitterdiskursen der letzten Jahre bringen Lukas Bettag et al. (2023) die Paradoxien des (instrumentellen) Wokeness-Vorwurfs auf den Punkt:

„Es handelt sich bei woke also eher um ein semantisch unterbestimmtes Zeichen mit funktionalem Charakter als um einen Begriff im Sinn der politischen Begriffsgeschichte.
Der Gebrauch der Chiffre woke transportiert damit vieles von dem, was mit ihr kritisiert werden soll: Sie schreibt ihrem Benutzer / ihrer Benutzerin eine privilegierte Einsicht gegenüber den weltfremden ‚Woken‘ zu, durch den Sarkasmus stellt sie eine Überheblichkeit gegenüber dem politischen Gegner zur Schau, sie hebt in ihrer Kritik der Scheinmoral der ‚Woken‘ die eigene Kritik in die Sphäre des Moralischen und hat die Funktion der Ab- und Ausgrenzung. Die Vokabel woke avanciert so zur Grundunterscheidung eines polarisierten Diskurses, der selbst herstellt, was er zu kritisieren vorgibt.“

Literatur

Bettag, Lucas et al. 2023: Woke. Ein Stigmawort zwischen Begriff und Chiffre, Sprachreport, 39, 1, S. 1–13.

Gut faul sein

Gut faul sein zu können ist zugleich Stachel im allgemeinen Produktivitätszwang – es verweist auf dessen ideologische Einseitigkeit, die selbst seinen eigenen Zweck untergräbt – und dessen subkutane Vollstreckung ins gesamte Leben – insofern es noch das andere der Arbeit, die Muße, darauf hin versteht, wie es ihr zunutze wird

Ideologie & Erklärung

„Ideologie“ bezeichnet nicht einen an sich erklärungsbedürftigen Gegenstand – das Konzept der Ideologie weist einen als ideologisch markierten Gegenstand allererst als erklärungsbedürftig aus. Ideologie wird nicht entlarvt, sie wird gesetzt.

Ideologie und Realität

Das Verkennen der Realität in der Ideologie ist letztlich ein Spannungsfeld: Am einen Pol steht eine kompensatorische Ausschmückung der tristen Realität (eine imaginäre Blume an der Kette, wie Marx schreibt) – am andern wird die Realität betoniert, indem sie gehen ihre immanente Unabgeschlossenheit, Widersprüchlichkeit, Kontingenz abgedichtet wird. Warum ist dies beides ein Verkennend er Realität und nicht, wie naheliegend, das eine Ablenkung von ihr, das andere Reduktion auf sie? Weil eben der Schmuck nicht vom Himmel fallen muss und auch selbst Moment der Realität sein kann, ebenso wie die vermeintliche Reduktion aufs Reale in seiner Unausweichlichkeit selbst einen Teil dieses Realen abschlagen und ableugnen muss.

Wer sich von der Falschheit eines Liberalismus ohne Solidarität überzeugen will, schaue nur mal in ein Buch de Sades.

Das Genre der Indentitätspolitikkritik ist ein Ritus der Vereinigung von linker Melancholie und konservativer Kulturkritik: in der fortwährenden Widerholung des immergleichen Lamentos versichert sich dieser fragile Zusammenschluss seiner selbst.

Schreiben als Selbstsuggestion

Das Schreiben ist ein Akt der Selbstüberzeugung, nicht Ausdruck eines vorgängigen Wissens. Die Vielschreibenden haben es geschafft, sich selbst von viel zu überzeugen. Dabei ist diese Selbstüberzeugung in ihrer Ambivalenz zu fassen. Sie ist zunächst Basis des Wissens: Ohne die Fähigkeit, sich von etwas überzeugen zu lassen, flattert der Geist im Wind der Lektüre. Erst die Fähigkeit sich in diesen Wind zu stellen, kann dessen Kraft nutzen, um im Denken voranzukommen. Zugleich birgt die Selbstüberzeugung aber auch die Gefahr einer Aushöhlung des Wissens: Wer allzu leicht sich überzeugt wird „sophistisch“, verschließt sich des Erkenntnispotentials im Namen des Erkenntnisbesitzes

Der Sinn der Kunstkritik

Die Aufgabe der Kunstkritik ist es nicht, die wahre Bedeutung eines Stücks oder Werkes darzustellen, sondern mögliche Bedeutungen zu verbalisieren. Sie schließt nicht den Sinn, und treibt so der Kunst die Offenheit aus, die sie zur Kunst macht, sondern ganz im Gegenteil: sie öffnet. Denn sie setzt den spontanen Interpretationen des (durchaus heterogenen) Publikums keine bessere und legitimiere Deutung entgegen, sondern vor allem eine andere, aber auch mögliche. Damit verlängert sie in gewisser Weise die Offenheit des Kunstwerkes gegen seine spontane individuelle Schließung, die sich vermutlich besonders beim „gebildeten“ Publikum unversehens einstellt.