Über Imagination und Realität unvertrauter Städte

Während der Planung einer Reise in eine Stadt, in der ich vor über zehn Jahren für ein Jahr gelebt habe, erinnere ich mich an eine Erinnerung: Eine Gasse, die, abgehend von einer großen Straße unweit der Universität, hoch führt auf einen Berg. Die kopfsteingepflasterte Gasse, lang und schräg gestuft, wird von gemütlichen Pubs gesäumt, in denen es besonders gutes Essen und gutes Bier gibt. An ihrem Ende führt ein Pfad am Hang entlang und öffnet schließlich den Blick auf ein wunderschönes Tal, mit weißen Felsen. Ein geheimer Ort. – Ein Ort, den es nie gegeben hat.

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Lob der Baustelle

Meistens begegnet sie uns als Ärgernis. Sie hemmt das reibungslose Fortkommen, wenn etwa Fahrspuren verjüngt werden oder im Fall von Radwegen häufig einfach im Nichts enden. Ist sie nebenan, dann stört ihr permanenter Lärm. Zum Teil bringt sie gar die Wänden zu wackeln und raubt den Schlaf.

Die Baustelle erfährt allgemein keine große Wertschätzung. Wenn wir doch etwas an ihr finden, so höchstens die Verheißung ihres Zwecks. Etwas Gutes bietet die Baustelle erst, wenn fertig gebaut ist und die Presslufthämmer und Planierraupen abgezogen sind. Aber um die Baustelle wirklich in diesem Sinne als Träger einer Verbesserung zu erleben und als solche zu begrüßen zu können, fehlt uns heute wohl eine gute Portion des Fortschrittsoptimismus, der den Staub der Baustelle mythisch zum Goldstaub kommender Zeiten aufzuladen vermöchte. Die Euphorie, die etwa den Bau der A40 im Ruhrgebiet ab Ende der 1950er Jahre begleitete, wirkt darum inzwischen weitgehend befremdlich.

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Raum als Sprache

Der Raum ist wie Sprache  – nicht strukturiert wie eine Sprache. Soll heißen, er verhält sich zur Bewegung wie die Sprache (langue)  zum Sprechen (parole). Mit dem Satz, dass Raum wie Sprache ist, soll nicht einem textualistischem Raumverständnis das Wort geredet werden, das festlegt, wie im Raum zu ‚lesen‘ ist. Es geht nicht darum, eine Wesenseigenschaft des Raums festzustellen. Der Satz beschreibt vielmehr die Analogie eines Verhältnisses. Hierbei können zwei Aspekte als fruchtbar hervorgehoben werden.

  1.  Sprache und Raum sind im strukturalistischen Sinne Ermöglichungsstrukturen. So wie die Sprache bei Saussure häufig missverstanden wird als das Gesagte determinierend, wird oft von einer positiven Festlegung von Bewegung und Verhalten durch den Raum ausgegangen. Sprache öffnet, folgt man Saussure, aber vielmehr einen Raum des Sagbaren. Dieser ist nicht als restriktiv von außen zu betrachten – so etwa als könne man etwas, das man denkt, nicht sagen –, sondern von innen als produktiv. Das Gesagte lässt sich nie aus der Sprache ‚ableiten‘. Die Sprache ist die Möglichkeit, in der wir leben. Der Raum wäre zu untersuchen auf seine ‚Grammatik der Ermöglichung‘.
  2. So wie aber der Poststrukturalismus eine dichotome Relationierung von Sprache und Sprechen hat zusammenstürzen lassen, so ist Raum der Bewegung und dem Verhalten nicht in strukturalistischer Verkürzung als unabhängig vorauszusetzen. Die poststrukturalistische Kritik an der Dichotomie von Sprache und Sprechen erlaubt einen Impuls der Raumsoziologie theoretisch solider zu fassen: die Ko-Konstitution von Raum und sozialer Praxis. Wirkt Raum einerseits auf soziale Praxis, ist er andererseits doch auch durch diese hervorgebracht. Ob als Iterabilität (Derrida) oder indirekte Rede (Deleuze/Guattari), ohne das konkrete Sprechen keine Sprache. Judith Butler hat besonders Derridas Gedanken bereits für die Materialität des Körpers fruchtbar gemacht. Das Potenzial der poststrukturalistischen Konzeptionierung von Sprache und Sprechen – jenseits eines Textualismus – für die Analyse von Raum und verkörperter Praxis auszuloten, steht noch aus.