Wesen des Scheins

„Hat die Theorie der Gesellschaft den Erkenntniswert der Erscheinung kritisch zu relativieren, so hat umgekehrt die empirische Forschung den Begriff des Wesensgesetzes vor Mythologisierung zu behüten. Die Erscheinung ist immer auch eine des Wesens, nicht nur bloßer Schein. Ihre Änderungen sind dem Wesen nicht gleichgültig. Weiß in der Tat schon keiner mehr, daß er ein Arbeiter ist, so affiziert das die innere Zusammensetzung des Begriffs des Arbeiters, selbst wenn dessen objektive Definition – die durch die Trennung von Produktionsmitteln – erfüllt bleibt.“

Theodor W. Adorno
Soziologie und empirische Forschung

Langsam trinken

Stehen mit der Vielzahl von Energy Drinks Getränke zur Verfügung, die sich mit dem Versprechen vermarkten, das Individuum dem Imperativ der Leistungsfähigkeit und Fitness  – jener, die man im Studio erwirbt – gewachsen zu machen, so verspricht ein beworbenen Produkt nun, „Entschleunigung“ in trinkbarer Form. Wenn es auch nicht verwunderlich ist, dass die Konsumindustrie es noch schafft, den Widerstand gegen sie, als den Entschleunigung und simplicité volontaire sich (miss-)verstanden haben, zu ‚kapitalisieren‘, so stellt zero bock doch anschaulich vor Augen, dass das vermeintliche Außen von kapitalistischer Produktion und Konsumption wie bei einem Strudel in dessen Mitte gezogen wird.

zero bock
zero bock

Marxismus und Strukturalismus

Der Strich in der Marx’schen Formel G – W – G‘ zeigt das Moment an, in dem Marxismus und Strukturalismus auseinanderfallen. Anders als das geschlossene System von Heiratsregeln bei Lévi-Strauss, dass über die Re-Generation Diachronizität wieder in Synchronizität überführt, entzieht sich der Geld-Waren-Kreislauf konstitutiv einer solchen Schließung. Sein Movens ist gerade der Überschuss der Nicht-Identität des G auf der ersten Stufe mit dem der dritten.
Solange diese Nicht-Identität nicht zu qualitativem Wiederspruch führt, ist der Strukturalismus asymptotisch wahr. Im entgeht jedoch die immer schon mitlaufende Möglichkeit seiner Aussetzung in dem Moment, wenn G‘ sich nicht mehr assimilieren und als eine neues G in den je-nächsten Durchlauf des Geld-Waren-Kreislaufs einsetzen lässt.

Stolpern

Um über Empirie stolpern zu können, muss Theorie sich paradoxerweise selbst ein Beinchen stellen.

Heldengedenken – die Antwort

Im November letzten Jahres habe ich, irritiert durch einen von der Stadt Mainz zum „Volkstrauertag“ gesponsorten Kranz am Denkmal für die 1914 vor Helgoland versenkte SMS Mainz, eine kleine Mail mit zwei Fragen an die Stadtverwaltung geschickt. Nun hat mich heute dann auch eine Antwort erreicht, die ich weiter unten poste. Hier aber zum besseren Verständnis noch mal die Anfragen an die Stadt.

„Sehr geehrte Damen und Herren,

am heutigen Tag ist mir aufgefallen, dass die Stadt Mainz zum sog. Volkstrauertag einen Kranz am Denkmal für die im ersten Weltkrieg gesunkene SMS Mainz am Adenauerufer abgelegt hat. Dies irritiert mich angesichts der Aufschrift der Säule.

Ich möchte deshalb nachfragen, ob die Stadt Mainz

1) den Einsatz der SMS Mainz als „künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung“ empfohlen ansieht, und ob sie

2) die Einschätzung teilt, dass die deutsche Marine im ersten Weltkrieg die „Wahrung des Rechts“ anstrebte und für den „Frieden der Welt“ kämpfte?“

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Nach dem Tode

Es heißt, die Menschen, die uns wichtig sind,
Begleiten uns auch nach dem Tod weiter.
Das ist falsch. – Ihre Abwesenheit begleitet uns;
Als Verlusst des Teils unserer Selbst, der in ihnen aufgehoben war.

Grenzen der Ideologie

Die Hinwendung zur Ideologie, zum sogenannten Überbau, die in der westlich-marxistisch geprägten Theorie seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist  – hierin gehen Gramasci mit Lukács, die Cultural Studies mit stukturalistische Marxisten und Kritischer Theorie bei allen Unterschieden zusammen – war und ist wichtig gegen den Reduktionismus eines ökonomistischen Marxismus. Ideologie ist kein Epiphänomen, dem unabhängige Wesensmechanismen des Kapitalismus gegenüberzustellen wären. Vielmehr gehört sie essentiel zu seinen verschiedenen Reproduktionsformen. Aber sich der Manigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen intensiv zu widmen, stellt, bei allem was man dabei an notwendiger Einsicht gewinnt, zugleich vor ein Problem. Schnell fängt die je-lokale Ideologie uns ein, und macht ihre Grenzen zu den Grenzen unseres Denkens. Die Nation, vornehmlicher Ideologiezauber, wird nicht nur zum Gegenstand der Kritik, sondern auch zu ihrem Rahmen. Aufgabe wäre es aber, weder den Blick auf die spezifischen Ideologeme zu verlieren, noch auf die allgemeinere, weitere, transnationale, globale Perspektive, die einst wichtiges kennzeichen linker Theorie war.

Neo-Appeasement

In München kommt es während des Prozesses zu massiven Störungen von berichtenden Journalistinnen durch neonazistische Gäste. Dabei bleiben die Neonazis von den anwesenden Justizbeamten unbehelligt. Besonders faszinierend, dass (inexistente) Problembewusstsein des Präsidenten des Münchener Amtsgerichts, Gerhard Zierl, in Interview mit dem Medienmagazin ZAPP. Dazu, dass einer der Neonazis sich als Journalist ausgebend, die Pressearbeit gestört und sich auch während des Prozesses zu den Journalistinnen gesetzt hat, bemerkt er nur:

„Das ist jetzt Sache der Einsatzleitung vor Ort gewesen. Wenn die entschieden haben aus Gründen auch einer Deeskalation, oder aus Gründen eine Eskalation überhaupt nicht, nun, zu befördern, in da jetzt sitzen zu lassen, dann habe ich das nicht zu Beanstanden.“ „Neo-Appeasement“ weiterlesen

Hegemonie

„Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren. Zur Erstürmung dieser emanzipatorischen Stellung und damit zur politischen Ausbeutung aller Sphären der Gesellschaft im Interesse der eignen Sphäre reichen revolutionäre Energie und geistiges Selbstgefühl allein nicht aus. Damit die Revolution eines Volkes und die Emanzipation einer besondern Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein, dazu muß eine besondre soziale Sphäre für das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint. Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muß umgekehrt ein andrer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein. Die negativ-allgemeine Bedeutung des französischen Adels und der französischen Klerisei bedingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden und entgegenstehenden Klasse der Bourgeoisie.“ (MEW I, S. 388)