Marxismus und Strukturalismus

Der Strich in der Marx’schen Formel G – W – G‘ zeigt das Moment an, in dem Marxismus und Strukturalismus auseinanderfallen. Anders als das geschlossene System von Heiratsregeln bei Lévi-Strauss, dass über die Re-Generation Diachronizität wieder in Synchronizität überführt, entzieht sich der Geld-Waren-Kreislauf konstitutiv einer solchen Schließung. Sein Movens ist gerade der Überschuss der Nicht-Identität des G auf der ersten Stufe mit dem der dritten.
Solange diese Nicht-Identität nicht zu qualitativem Wiederspruch führt, ist der Strukturalismus asymptotisch wahr. Im entgeht jedoch die immer schon mitlaufende Möglichkeit seiner Aussetzung in dem Moment, wenn G‘ sich nicht mehr assimilieren und als eine neues G in den je-nächsten Durchlauf des Geld-Waren-Kreislaufs einsetzen lässt.

Stolpern

Um über Empirie stolpern zu können, muss Theorie sich paradoxerweise selbst ein Beinchen stellen.

Nach dem Tode

Es heißt, die Menschen, die uns wichtig sind,
Begleiten uns auch nach dem Tod weiter.
Das ist falsch. – Ihre Abwesenheit begleitet uns;
Als Verlusst des Teils unserer Selbst, der in ihnen aufgehoben war.

Grenzen der Ideologie

Die Hinwendung zur Ideologie, zum sogenannten Überbau, die in der westlich-marxistisch geprägten Theorie seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist  – hierin gehen Gramasci mit Lukács, die Cultural Studies mit stukturalistische Marxisten und Kritischer Theorie bei allen Unterschieden zusammen – war und ist wichtig gegen den Reduktionismus eines ökonomistischen Marxismus. Ideologie ist kein Epiphänomen, dem unabhängige Wesensmechanismen des Kapitalismus gegenüberzustellen wären. Vielmehr gehört sie essentiel zu seinen verschiedenen Reproduktionsformen. Aber sich der Manigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen intensiv zu widmen, stellt, bei allem was man dabei an notwendiger Einsicht gewinnt, zugleich vor ein Problem. Schnell fängt die je-lokale Ideologie uns ein, und macht ihre Grenzen zu den Grenzen unseres Denkens. Die Nation, vornehmlicher Ideologiezauber, wird nicht nur zum Gegenstand der Kritik, sondern auch zu ihrem Rahmen. Aufgabe wäre es aber, weder den Blick auf die spezifischen Ideologeme zu verlieren, noch auf die allgemeinere, weitere, transnationale, globale Perspektive, die einst wichtiges kennzeichen linker Theorie war.

Neo-Appeasement

In München kommt es während des Prozesses zu massiven Störungen von berichtenden Journalistinnen durch neonazistische Gäste. Dabei bleiben die Neonazis von den anwesenden Justizbeamten unbehelligt. Besonders faszinierend, dass (inexistente) Problembewusstsein des Präsidenten des Münchener Amtsgerichts, Gerhard Zierl, in Interview mit dem Medienmagazin ZAPP. Dazu, dass einer der Neonazis sich als Journalist ausgebend, die Pressearbeit gestört und sich auch während des Prozesses zu den Journalistinnen gesetzt hat, bemerkt er nur:

„Das ist jetzt Sache der Einsatzleitung vor Ort gewesen. Wenn die entschieden haben aus Gründen auch einer Deeskalation, oder aus Gründen eine Eskalation überhaupt nicht, nun, zu befördern, in da jetzt sitzen zu lassen, dann habe ich das nicht zu Beanstanden.“ „Neo-Appeasement“ weiterlesen

Hegemonie

„Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren. Zur Erstürmung dieser emanzipatorischen Stellung und damit zur politischen Ausbeutung aller Sphären der Gesellschaft im Interesse der eignen Sphäre reichen revolutionäre Energie und geistiges Selbstgefühl allein nicht aus. Damit die Revolution eines Volkes und die Emanzipation einer besondern Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein, dazu muß eine besondre soziale Sphäre für das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint. Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muß umgekehrt ein andrer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein. Die negativ-allgemeine Bedeutung des französischen Adels und der französischen Klerisei bedingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden und entgegenstehenden Klasse der Bourgeoisie.“ (MEW I, S. 388)

Horror vacui proletarii

Das Argument, dass wir immer noch in einer Klassengesellschaft leben, trifft ebenso zu, wie es falsch ist. Zweifelsohne stimmt der Hinweis, dass bei Marx Klassen formell über die Stellung im Produktionsprozess bestimmt sind und dass sich heute immer noch ein erheblicher Teil der Menschen durch den Nicht-Besitz an Produktionsmitteln auszeichnet. Aber dieser Punkt wird erkauft, indem man die Marxsche Theorie zu einer formellen degradiert. „Horror vacui proletarii“ weiterlesen

Invisibilisierung der Welt

Erkenntnis dient, wie in anderer Weise auch Kunst, der Invisibilisierung der Welt als des „unmarked state“, den Formen nur verletzen, aber nicht repräsentieren können.

Niklas Luhmann
Die Wissenschaft der Gesellschaft

schwarz-rot-gold

Ein kleines Gedicht von Heinrich Heine, das allen zur Lektüre zu empfehlen ist, die bei der Diskussion  um die deutsche Nationalfahne deren ach-so-demokratische Bedeutung betonen zu müssen meinen.

Michel nach dem März

Solang ich den deutschen Michel gekannt,
War er ein Bärenhäuter;
Ich dachte im März, er hat sich ermannt
Und handelt fürder gescheuter.

Wie stolz erhob er das blonde Haupt
Vor seinen Landesvätern!
Wie sprach er – was doch unerlaubt –
Von hohen Landesverrätern.

„schwarz-rot-gold“ weiterlesen

Evolution ohne Telos

Nietzsche beginnt seinen Aphorismus Falsche Schlüsse aus der Nützlichkeit mit der Bemerkung:

„Wenn man die höchste Nützlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklärung ihres Ursprungs getan: das heißt, man kann mit der Nützlichkeit niemals die Notwendigkeit der Existenz verständlich machen. Aber gerade das umgekehrte Urteil hat bisher geherrscht – und bis in die Gebiete der strengsten Wissenschaft hinein.“ (Morgenröte, § 37)

Und viel zu oft herrscht es immer noch – auch gerade da, wo es am wenigsten gelten dürfte, in der evolutionären Biologie. Die Disziplin, deren moderne Begründung einst mit dem radikalen Zurückweisen jeglicher Teleologie anhob, dient populärwissenschaftlich zur ‚Erklärung‘ von heutigem (vermeintlichem) Sosein mit in imaginäre Vorzeit projizierten Um-Zu-Relationen. Dem Mann ist der Orientierungssinn gegeben, damit er sich auf der Jagt zurechtfinde. Diese Begründungsstruktur zieht sich dabei bis in die Wissenschaft im engeren Sinne fort, die allzuoft den Gedanken des von hinten getriebenen Prozesses der Evolution – wenn auch differenzierter und weniger plump – durch eben jene Um-Zu-Relationen ersetzt.

Nietzsche, Friedrich 1960: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, München: Goldmann.