Kleine Dialektik des Spiels

Das Spiel ist zugleich widerständige Praxis gegen den Kapitalismus als auch dessen miniatisierte reine Form. Widerständig, weil in seinem Selbstzweck es sich dem Imperativ der unmittelbaren Verwertbarkeit widersetzt. In seiner Imagination anderer Welten, die einer anderen Logik folgen – egal wie abstrakt diese sein mag – grenzt es ans Utopische. Zugleich aber liegt genau in diesem Einlassen auf die selbstzweckhafte Logik des Spiels das Wesen des Kapitalismus in Kleinform vor: das automatische Subjekt. Wie die Menschen durch dieses zur Anhängseln eines als natur- und schiksalhaft erfahrenen Laufs der Welt werden, der seinen Grund allein in sich selbst findet, ebenso verabsolutiert sich die doxa routinisierter Alltagspraktiken im Spiel zur reinen illusio, die sich auch nicht durch das volle Bewusstsein der Willkürlichkeit der so gesetzten Ordnung mehr beunruhigen lässt. Ist es beliebt, Monopoly dafür zu kritisieren, dass es Kinder auf die Logik des Kapitals abrichtet, wäre doch trefflicher zu kritisieren, dass es das Einlassen auf eine beliebige Logik, gar die Indentifikation mit ihr, einübt. Das Spiel lehrt die Frage nach dem Sinn des Ganzen nicht zu stellen.

Cigale & Fourmilière

Der Kern der Philosophie Jacques Rancières scheint sich mit vier Textzeilen der Band La Rue Ketanou wiedergeben zu lassen:

Y a des cigalles dans la fourmilière
Et vous ne pouvez rien y faire
Y a des ciagalles dans la fourmilière
Et c’est pour ça que j’espère

La Fontaine hat mit seiner Parabel von schöngeistiger Grille und arbeitssamer Ameise den Widerstreit von freiem Geist und realistischer Pragmatik in der üblichen Tiermetaphorik zu verschiedenen Spezies naturalisiert. Rancières Kritik der Hypostasierung zweier Menschentypen drängt sich auf, wenn La Rue Ketanou nicht lediglich die Unterscheidung La Fontaines übernehmen, sondern sie gegen ihn wenden. So wie Rancière Arbeiter beim Schreiben von Gedichten zeigt – und zwar nicht von Arbeitergedichten –, besingen La Rue Ketanou die Grille in der Ameise. „Cigale & Fourmilière“ weiterlesen

J. L. Austin

In Wittgenstein’s Vienna schreiben Allan Janik und Stephen Toulmin über J. L. Austin im Vergleich zu Wittgenstein:

„At Oxford, meanwhile, similar-looking techniques were being employed with the greatest skill, but without any deeper, or clearly philosophical purpose. It was like changing a real clock for a child’s clock-face – which looks just the same at first sight, but does not tell time.“

Überwachung und Souveränität

1. Man darf nicht der Rationalitätsfiktion der Überwachung glauben. Immer wieder werden die Wunder der Technik beschrieben, nach denen vermeintlich schon jede unser Regungen nicht nur erfasst werden kann, sondern gar vorausgesagt. Dies übersieht, wie schlecht die Technik tatsächlich funktioniert. Dietmar Kammerer weist in Bilder der Überwachung darauf hin, wie wenig Videoüberwachung das leistet, wofür sie gedacht ist. Und wer in den ‚Genuss‘ personalisierter Werbung gekommen ist, weiß, dass das Angebotene nur selten, bestimmt aber nicht aufs genauste, den eigenen Wünschen oder Bedürfnissen entspricht. „Überwachung und Souveränität“ weiterlesen

Urteil und Verstehen

Das Urteil über den Text ist der Anfang der Auseinandersetzung mit ihm, nicht, wie Hermeneutiker es oft meinen, deren Ende. Das Urteil bringt eine Distanz zwischen den Text und den Leser, die es überhaupt erst ermöglicht, den Text als Text zu sehen und nicht in seiner Doxa vollends aufzugehen. Wenn die Hermeneutik diese Urteilen nicht will, will sie religiös lesen. Letztlich hebt sie sich damit aber selbst vorsorglich auf: Ziel ist dann die Identität mit dem Text, nicht mehr das Verstehen.

Persistenz und Avantgarde

Der Architekturdiskurs kann gut mit juristischen Diskursen verglichen werden: Er ist um Fälle herum konstruiert – Präzedenzfälle, wenn man so will. Allerdings ist die temporale Ausrichtung der Architektur der des Rechts diametral gegenüber gestellt. Während das Recht nach hinten gerichtet ist (Opitz 2011) – es rekonstruiert, was der Fall ist, bringt es zu juristischem Dasein (Scheffer 2007) – ist die Architektur ihrer eigenen Zeitlichkeit nach prospektiv. Dies hängt mit der Zeitlichkeit ihrer Erzeugnisse zusammen. „Persistenz und Avantgarde“ weiterlesen

Die größere Angst

„Höchst fragwürdig der allgemein verbreitete Glaube, die Angst vor dem physischen Tode sei die tödlichste Angst des Menschen. Ungleich tödlicher ist seine angst vor dem gesellschaftlichen Tode, also davor, diskreditiert, geschnitten oder gar verlacht zu werden. Der Entschluß, allein oder gar im Widerspruch zur gesamten Umwelt weiterzuleben, erfordert viel mehr Selbstständigkeit und Kühnheit als die Bereitschaft, mit Anderen zusammen zu sterben. Selbst wenn es zum gewissen Tode führt, scheint das Mitmachen als eine Art von Lebensversicherung mißverstanden zu werden. Unter Huandert, die blind mit ins Feuer gehen, gibt es höchstens drei, die unerschrocken genug sind, aus einer sinnlosen oder unmoralischen Massenaktion zu desertieren.“

Günter Anders, Philosophische Stenogramme

Gouvernementalitätsforschung meets Adorno

„Die Akzentuierung von ‚Erfindungen‘, ‚Fiktionen‘ und ‚Konstruktionen‘ in sozialwissenschaftlichen Arbeiten und die Aufnahme ‚poststrukturalistischer‘ Theorieelemente werden nicht selten erneut in theoretisch-juridischen Kategorien interpretiert (im Sinn einer ‚richtigen‘, ‚adäquaten‘ oder ‚wahren‘ Theorie), ohne wiederum die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu reflektieren, die sie ‚wahr‘ gemacht haben, und ihre möglichen (theorie-)politischen Folgen zu bedenken. Es ist daher notwendig, den theoretischen Gewinn der Entnaturalisierung nicht durch eine Strategie der Entmaterialisierung in sein Gegenteil zu verkehren. Hinter diesem ‚Vorsichtsregulativ‘ steht der Verdacht, dass die zunehmende Akzeptanz „konstruktivistischer Arbeiten“ (vgl. Hacking […]). mit einer politischen Rationalität harmoniert, der es um die Austreibung der letzten Residuen von Naturalität aus dem neoliberalen Flexibilisierungs-Paradies geht – um dann genau diese Form von Sozialität ihrerseits wieder zu naturalisieren.“

Lemke/Krasmann/Bröckling 2000
Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbststechnlogie

short cuts

Innerhalb eines Paradigmas kann mit short cuts – mit elliptischen Argumenten – argumentiert werden. Sie führen das Argument nicht aus, sondern deuten nur die Art, den Typ des Arguments an. Auch die Hörerinnen müssen das Argument nicht im Kopf ‚nach-vollziehen‘ (hier nicht als Wiederholung, sondern als ‚Nachholung‘ verstanden); es reicht, wenn sie die Art des Argumentes kennen und ein ausreichendes Maß an Vertrauen darein haben, dass dieses Argument hier ‚zieht‘, dass es irgendwo hinführt und wo – ungefähr – es hinführt. Offen zeigt sich der short cut, wenn „das ist…“ ausreicht – etwa „das ist essenzialistisch“. Zumeist vermischt sich eine solche Proklamation aber mit Ansätzen der Agumentation. „short cuts“ weiterlesen

Definition und Welt

„Das in der empirischen Technik allgemein gebräuchliche Verfahren der operationellen oder instrumentellen Definition, das etwa eine Kategorie wie „Konservatismus“ definiert durch bestimmte Zahlenwerte der Antworten auf Fragen innerhalb der Erhebung selbst, sanktioniert den Primat der Methode über die Sache, schließlich die Willkür der wissenschaftlichen Veranstaltung.“

Theodor W. Adorno
Soziologie und empirische Methode

Eine Wissenschaft, die Relevanz für das Leben haben will, einem anderen als sich selbst etwas sagen will, kann sich nicht ganz der alltäglichen Sprachen entwinden. Jeder Deut an ‚Klarheit‘ der durch die durchdefinierte Sprache gewonnen wird, geht ihr an Weltbezug verloren. Der Rückzug der Wissenschaft in die ‚reine‘ Geometrie ihrer durchdefinierten Begriffe kann sich den Schein der Weltlichkeit dann nur über verschleierte Homonymie geben, in der sich der idealisierte Begriff wieder heimlich mit dem alltäglichen kurzschließt. Je mehr jenem die Probleme von diesem ausgetrieben wurden, desto weniger Legitimität kann dieser Kurzschluss beanspruchen.

„Sobald dann, wie es fast unvermeidlich ist, von den instrumentell definierten Begriffen auch nur auf die konventionell üblichen extrapoliert wird, macht sich die Forschung eben der Unsauberkeit schuldig die sie mit ihren Definitionen ausrotten wollte.“

ebd.

Mag es für die Konstitution einer Wissenschaft wichtig sein, dass sie eigene Probleme – oder mit Bachelard: Problematiken –, eigene Relevanzen und eigene Fragen entwickelt, ist es für die Bedeutung einer Wissenschaft zugleich fatal, wenn sie nur noch auf diese reagieren kann und sich so in sich selbst einschließt.