„Because it’s 2024!“ Oder: Warum der Fortschritt uns nicht retten wird

Wir lassen uns immer noch überraschen, dass rechte oder religiöse Kreise Dinge vertreten die wir als vorgestrig erachten. Am deutlichsten wird diese Haltung, die reaktionäres Denken immer schon als eigentlich auf verlorenem Posten versteht, weil aus der Zeit gefallen, in der Begründung, dass dies oder jenes selbstverständlich sei, weil es eben das Jahr 20XY sei. Kurzfristige Bekanntheit bekam etwa der kanadische Premierminister Justin Trudeau, als er die Frage, warum sei Kabinett geschlechtlich paritätisch besetzt war, lapidar beantwortete mit: „Because it’s 2015“.

Bei dieser Haltung, die von eine mit der Zeit automatisch verbürgten sozialen Fortschritt impliziert, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit, die wir „heute“ überwunden zu haben meinen. Denn dann fällt auf, dass auch damals entsprechendes schon aus der Zeit gefallen schien – und eben doch zum Signum eben jener Zeit werden konnte.

Jüngst bin ich über einen kleinen Artikel von Siegfried Kracauer von 1925 gestoßen. Kracauer Berichtet hier von einem Gerichtsprozess aus dem selben Jahr, in dem ein Gesetz aus Tennessee zur Anwendung kam, das es untersagte, in im Biologieunterreicht die Evolutionstheorie zu lehren. Man mag sich durchaus an die aktuellen Vorstöße der religiösen Rechten in den USA erinnert fühlen, sämtliche Literatur zu verbieten, die vermeintlich religiösen Normen widerspricht. In Bezug auf die Verurteilung des Lehrers im genannten Verfahren hält Kracauer fest: „Ermutigt durch ihren Gerichtserfolg in Tennessee sammeln sie [die Anhänger einer fundamentalistischen Bibelauslegung, D.A.] bereits für eine Universität nach ihrem Sinne und planen die Einbringung eines gesetztes zur Unterjochung der Schulen.“ (Kracauer 1997 [1925]: 280).

Das hört sich nun wirklich so an, als erlebten wir heute eine Wiederkehr des Vergangenen. Aber eben auch bei Kracauer klingt schon das Empfinden eines Anachronismus durch, den er nicht zuletzt durch eine Kontrastierung von Amerika und Europa aufzulösen versucht.

„Wir Europäer, die wir uns – Ungläubige und Gläubige – auf Grund mannigfacher Erfahrungen längst daran gewöhnt haben, vom Affen abzustammen, blicken mit einiger Verwunderung auf das fortschrittlichste Land der Welt, dem diese wie immer unwürdige Abstammung eigentlich keine Qualen mehr bereiten sollte. Wie? Amerika, das über die niedlichsten Autos und gigantischsten Jazz-Band verfügt, der Hort der Zivilisation, dem nachzueifern wir uns zu zugeschworen haben, gebärdet sich postum mittelalterlich, fällt zurück in die Zeiten unserer Altvorderen mit ihren Religionsdisputen und Ketzergerichten?“ (Kracauer 1997 [1925]: 279).

Der Rückfall, der hier genannt wird, ist einerseits einer, der sich am Maßstab des technischen Fortschritts bemisst (Autos, Jazz-Bands), andererseits ist es ein Rückfall nach Europäischem Maßstab („in die Zeiten unserer Altvorderen“). Seinen Artikel beschließend ‚erklärt‘ Kracauer den erstaunlichen Widerspruch von Fortschritt und Rückfall letztlich damit, dass  die USA eine junge Nation seien:

„Wer weiß – das ganze Ereignis hat sich vielleicht gemäß dem von Mr. Bryan [dem fundamentalistischen Ankläger, D.A.] verketzerten biogenetischen Gesetz vollzogen, nach dem die Embryos die Entwicklungsphasen ihrer Säugetier-Vorfahren wiederholen. So liefert der Affenprozeß zwar nicht den Beweis, daß Amerika das Land der Freiheit ist, lehrte aber immerhin drastisch, daß noch eine jugendliche Nation drüben Auto rast.“ (Kracauer 1997 [1925]: 281).

Auch wenn der von Kracauer herangezogene entwicklungsphysiologische Vergleich heute eher befremdlich wird, so kommt darin sehr deutlich eine Grundhaltung zum Ausdruck, die immer noch den Umgang mit entsprechenden illiberalen, undemokratischen, fundamentalistischen etc. Vorstößen prägt: die Annahme eines gerichteten Prozesses in dem entsprechende Phänomene nur vorläufige Abweichungen sein können.

Und im Angesichts des Faschismus hat bereits Walter Benjamin in den 1930ern und 1940ern auf die Gefahren hingewiesen, reaktionäre Tendenzen nur als Abweichung von einer „historischen Norm“ des Fortschritts zu fassen (Benjamin 2011 [1940]: VIII). Den technizistischen Fortschrittsglauben der Sozialdemokratie vor Augen, stellt er heraus, dass eine Politik auf Grundlage einer solch unhaltbaren Geschichtsvorstellung letztlich im Gefahr steht, angesichts eines falschen Optimismus bezüglich der gesellschaftlichen Verhältnisse eine konkrete Aktivität gegen eine „beginnende Barbarei“ zu untergraben (Benjamin 2011 [1938]: V).

Aus diesem Rückblick kann man ziehen: So verständlich die Empörung ist, dass ‚heute‘ politische und soziale Ungleichwertigkeiten weiterhin wie selbstverständlich geltend gemacht werden, so sehr hat man sich vor der Vorstellung, zu hüten, diese seien in irgendeinem automatischen Widerspruch zur Zeit. Heute wie damals ist die Reaktion in den Fortschritt verstrickt, und dieser wird uns nicht vor jener retten. – Das können wir nur selber tun.

Literatur

Benjamin, Walter 2011a: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: Gesamelte Werke II. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und andere Schriften. Frankfurt a. M.: Zweitausendundeins, 685–718.

Benjamin, Walter 2011b: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesamelte Werke II. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und andere Schriften. Frankfurt a. M.: Zweitausendundeins, 957–966.

Kracauer, Siegfried 1997: Zum Affenprozeß, in: Frankfurter Turmhäuser. Ausgewählte Feuilletons 1906–30. Zürich: Edition Epoca, 279–281.

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