Die rekursive Differenzierung von Theorie, Quantitativer und Qualitativer Sozialforschung

In einem kürzlich in der Zeitschrift SOZIOLOGIE erschienenen Beitrag im Rahmen einer Artikel-Serie zu Erneuerung der soziologischen Methodenausbildung, sprechen sich gegen die Arbeitsteilung zwischen Theorielehrstühlen und Lehrstühlen für Quantitative Methoden und für Qualitative Methoden aus. Sie argumentieren, dass empierischer Erhebungsverfahren und deren Daten immer schon theoretisch geprägt sind und dass auch die quantitative Sozialforschung die spezifischen Eigenschaften und Kontexte ihrer Gegenstände berücksichtigen muss, weshalb sie nicht jenseits qualitativer Forschung zu denken ist (von Carnap/von Carnap/Behrens 2024). Dies ist einerseits richtig, verkennt andererseits aber die Legitimität einer rekursiven Differenzierung.

Tatsächlich lassen sich Theorie, quantitative Methoden und qualitative Methoden nie völlig voneinander isolieren. Dies ist in Einzelheiten vielfach besprochen worden. Etwa als Theoriegeladenheit der Empirie (vgl. schon Fleck 1980) oder auch die Empiriegeladenheit von Theorie (Hirschauer 2008). Die Qualität quantitativer Daten war ein wichtiges Thema der Entstehung einer eigenständigen qualitativen Forschung. Neben Aaron Cicourels Forschung zur (mangelnden) Validität von Interviewdaten (siehe Witzel/Mey 2004) könnte man hier an William I. Thomas frühe Bemerkung denken:

„Probably the greatest distrust of statistics has come through the unwise manipulations of data that are often made, through the expression in terms of great precision of results obtained when complicated formulae are applied to very inexact data, and through the totally erroneous assumption on the part of many statisticians that the statistical results tell all that can be told about the subject.“ (Thomas 1928aa: 570 f.)

Andererseits lässt sich auch in qualitativen Studien leicht auf implizite Quantifizierungen hinweisen, etwa wenn auf die Anzahl der analysierten Fälle hingewiesen wird, um eine Generalisierbarkeit anzudeuten, ohne diese explizit statistisch zu behaupten.

All dies ist nicht abzustreiten. Aber ist daraus zu folgern, dass die Differenz zwischen Theorie/Quanti/Quali hinfällig ist? Dagegen kann man argumentieren, dass implizite Theorie, implizite Qualitäten und implizite Quantifizierungen zwar zu reflektieren sind, dies in den verschiedenen Ansätzen jedoch jeweils spezifisch geschieht. So gibt es letztlich eine Theorie der quantitativen Forschung, wie es eine Empirie der theoretischen Soziologie gibt – und ja, wenn man so will auch Datenqualitäten quantifizierter Forschung. Diese rekursive Differenzierung mag einem absurd erscheinen. Und mir geht es nicht darum, sie zu idealisieren. Aber es ist eben auch nicht idealisierend anzunehmen, dass die Entdifferenzierung von Theorie, quantitativer und qualitativer Sozialforschung in ein harmonisches und unhierarchisches Ganzes führt, wie es durchklingt, wenn von Carnap, von Carnap und Behrens vorschlagen: „Vielleicht sollten gar keine Methoden-Professuren mehr ausgeschrieben werden, sondern nur noch verschiedene spezialisierte Professuren für ‚Theorien und Methoden der Soziologie‘. Das wäre logisch und inhaltlich angemessen“ (von Carnap/von Carnap/Behrens 2024: 183).

Dies hier angerissene Entdifferenzierung trifft letztlich auf Machtstrukturen in einem Wissenschaftssystem und – so sehr mir die Einigelung in verschiedene Forschungsansätze, aus Angst übervorteilt zu werden, widerstrebt – eine (erneute) Degradierung von qualitativer Forschung zur Methode für Vorstudien, die die richtige – sprich: quantitative – Forschung vorbereitet, scheint mir eine reale Gefahr. So richtig die Forderung ist, dass verschiedene Ansätze soziologischer Forschung für sich relevanter (und dafür auch verständlicher) werden sollten, so sehr ist dabei auch ihre Irritations- und Herausforderungspotential zu bewahren, dass in der Entdifferenzierung und in Ansprüchen auf eine Einheit der Soziologie unterzugehen droht.

Zugespitzt: Nur wenn sich soziologische Teilbereiche füreinander verständlich machen, können Sie einander Neues sagen – nur wenn sie eine grundsätzliche Differenz bewahren, haben sie sich auch etwas Neues zu sagen. Das wäre die produktive Spannung einer pluralistischen Soziologie.

Literatur

von Carnap, Constantin/von Carnap, Marlene/Behrens, Johann 2024: Externe und interne Evidence in einer theoriebewusst „neuorientierten“ soziologischen Methodenausbildung, in: Soziologie, 53, 2, 172–192.

Hirschauer, Stefan 2008: Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis, in: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 169–187.

Thomas, William Isaac 1928: The Methodology of Behaviour Study, in: Thomas, William Isaac/Thomas, Dorothy Swaine (Hrsg.), The Child in America: Behavior Problems and Programs. New York: A. A. Knopf, 553–576.

Witzel, Andreas/Mey, Günter 2004: „I am NOT Opposed to Quantification or Formalization or Modeling, But Do Not Want to Pursue Quantitative Methods That Are Not Commensurate With the Research Phenomena Addressed.“ Aaron Cicourel in Conversation With Andreas Witzel and Günter Mey [106 paragraphs], in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5, 3, Art. 41.

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