Deutschland macht die Grenzen (der anderen) dicht

Die Grenzen werden kontrolliert. Aber das wird sie, entgegen der Hoffnung der Bornierten, nicht unbedingt dichter machen. Der verzweifelte Versuche das europäische Grenzregime nach seinem Scheitern nun an der eigenen Tür wieder aufzuziehen, wird vermutlich eher offenbaren, wie sich Deutschland seit über einem Jahrzehnt den Grundsätzen des verfassungsmäßigen Anspruchs auf Asylrecht entledigt hat.

Ein berühmter und immer wieder zitierter Satz aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates, der 1948/1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausgearbeitet hat, lautet:

„Ich brauche hier nur darauf hinzuweisen, wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgend etwas aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müßte an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift völlig wertlos“ [1].

Was der CDU Politiker Herman von Mangoldt hier beschreibt, und was ins Grundgesetz Eingang gefunden hat, ist ein allgemeines Refoulement-Verbot. Dieses besagt, das Geflüchtete nicht in Länder „zurückgewiesen“ werden können, in denen sie um ihre Freiheit oder ihr Leben fürchten müssen. Konkret heißt das aber auch, dass dies in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden muss und also an den Grenzen niemand abgewiesen werden kann, der politisches Asyl beantragt. Und so heißt es im Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) unter § 18:

„(1) Ein Ausländer, der bei einer mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörde (Grenzbehörde) um Asyl nachsucht, ist unverzüglich an die zuständige oder, sofern diese nicht bekannt ist, an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten“ [2].

Allerdings ist das nach der Asylrechtverschärfung von 1992/1993 nur die halbe Wahrheit. Denn schon im nächsten Satz heißt es:

„(2) Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn
1. er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) einreist,
2. Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird, oder
3. er eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er in der Bundesrepublik Deutschland wegen einer besonders schweren Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist, und seine Ausreise nicht länger als drei Jahre zurückliegt“ [3].

Der 1993 eingefügte Artikel 16a des Grundgesetzes ergänzt den grundlegenden Satz „(1) Politische Verfolgte genießen Asylrecht.“ in ähnlicher Weise:

„(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden“ [4].

Seit 1992 umgeht Deutschland damit das Grundlegende Refoulement-Verbot, indem es seine Nachbarstaaten zu Staaten erklärt, aus denen heraus ja nicht geflohen werden muss. Das Problem wurde so in einer Kaskade an die Außengrenzen der EU delegiert. Im Dubliner Übereinkommen wurde bereits 1990 festgeschrieben, dass ein Asylantrag in dem EU Land gestellt werden muss, das eine Geflüchtete zuerst betreten hat [5]. Die Staaten an der EU-Außengrenze haben nun die Wahl fliehende Menschen in die EU zu lassen, dann aber alleine für die Gewährung von Asyl verantwortlich zu sein, oder ihrerseits zu (laut der Genfer Flüchtlingskonvention illegalen) Zurückweisungen zu greifen. Und genau dies ist über einen längeren Zeitraum geschehen. So spricht PRO ASYL unter dem Stichwort „Push Back“ von „Systematischen Menschenrechtsverletzungen an der griechisch-türkischen See- und Landgrenze“ [6]. Auch die Europäische Grenzschutzagentur Frontex war immer wieder an Push-Back-Aktionen beteiligt, auch mit Todesfolgen [7].

Mit dem Trick „sicherer Drittstaaten“ hat Deutschland so letztlich über Umwege eine brutale Refoulement-Politik betrieben, deren Verbot, wie das Zitat von von Mangoldt zeigt, den Kern des Asylgedankens des deutschen Grundgesetzes ausmacht. Das, was hierzulande in diesen Tagen als „Flüchtlingskrise“ ausgemacht wird, ist in nicht unerheblichem Maße ihr Gegenteil: eine Abmilderung der mörderischen EU-Grenzpolitik. Griechenland, so stellte PRO ASYL im letzten Monat fest, habe „unter der Syriza-Regierung im ersten Halbjahr 2015 die illegalen Zurückweisungen auf offener See (Push-Backs) weitgehend zurückgefahren“ [8].

Schaut man sich für die letzten Jahre die deutsche Position zur Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene an, so lässt sich auch sehr bezweifeln, dass „europäische Werte“ gerade jetzt in eine Krise geraten. Die aktuellen Rufe nach Solidarität müssen heuchlerisch erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Bundesregierung 2013 „alle Forderungen des Europaparlaments und der Kommission nach einem Solidaritätsmechanismus rundweg abgeblockt hat“ [9]. Solange die Grenzstaaten Asylbewerberinnen zurückgedrängt haben, solange die Aufnahme von Geflüchteten an sie abgeschoben werden konnte, hat es sich Deutschland in seinem Kranz von „sicheren Drittstaaten“ bequem gemacht. Wenn Europa heute unsolidarisch ist, dann in ganz erheblichen Maße, weil diese Bundesregierung in den letzten Jahren dafür gesorgt hat.

Führt man sich diese Delegation der schmutzigen Grenzpolitik vor Augen, so lässt sich sehr bezweifeln, dass die Wiedereinführung von Grenzkontrollen unmittelbar einen großen Einfluss haben wird. Absehbar müssen Menschen, die Asyl beantragen (und dazu reicht die mündliche Aussage zunächst), von der Grenze zur nächsten zuständigen Aufnahmeeinrichtung gebracht werden. Eine Zurückweisung an der Grenze ist, trotz der Verschärfungen des Asylrechts in den 1990er Jahren, momentan wohl nicht anzunehmen [10]. Größer und brutaler ist vermutlich der mittelbare Einfluss: das Signal, welches die deutsche Bundesregierung damit sendet. Dass die „Grenzkontrollen“ aus Deutschland nicht auf Nachahmer warten müssen, kann niemanden überraschen. Ungarn schaltet jetzt im Wettrennen um die unmenschlichste Asylpolitik noch einen Gang höher. Und es ist kaum vorzustellen, dass dies von politischer Seite nicht geahnt und mindestens billigend in Kauf genommen wurde. Deutschland kontrolliert die eigenen Grenzen und gibt damit den Startschuss für die verstärkte Abriegelung der EU-Außengrenzen; es gibt grünes Licht für die Wiederaufnahme und Verstärkung der tödlichen Push-Back-Politik, die sich von der eigenen Haustüre kaum umsetzen ließe und die genau das Verwirklicht, wogegen der Geist des bundesdeutschen Asylrechts im Kern gerichtet war.

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[1] http://www.politikundunterricht.de/1_99/puu991za.htm
[2] http://www.gesetze-im-internet.de/asylvfg_1992/BJNR111260992.html
[3] http://www.gesetze-im-internet.de/asylvfg_1992/BJNR111260992.html
[4] http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_16a.html
[5] http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:41997A0819%2801%29&from=EN
[6] http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2013/Summary_Faelle_Deutsch_Pushed_Back.pdf
[7] http://www.deutschlandradio.de/frontex-gibt-menschenrechtsverletzungen-zu.331.de.html?dram:article_id=265564
[8] http://www.proasyl.de/en/press/press/news/pro_asyl_zur_westbalkankonferenz_und_der_kritik_an_griechenland/
[9] http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-10/EU-Asyl-Migration/seite-2
[10] https://www.hna.de/politik/flucht-geordneten-bahnen-deutschen-grenzkontrollen-bedeuten-nicht-5528642.html

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