Die Banalität der Vertreibung

Slavoj Žižek schreibt im Anfang seines „Parallax View“, dass das Jahr 2003 zwei erstaunliche Tatsachen zu Tage gefördert habe. Erstens sei Walter Benjamin auf der Flucht offensichtlich von stalinistischen Agenten getötet worden und habe sich nicht, wie bisher angenommen, selbst das Leben genommen. Zweitens sei von Anarchistinnen im spanischen Bürgerkrieg zum ersten mal mit den Prinzipien der modernen Kunst gefoltert worden. Der moderne Künstler Alfonso Laurencic hatte Erkenntnisse der modernen Farb- und Formlehre, wie sie etwa am Bauhaus erarbeitet worden, in die Gestaltung von Zellen als ‚Psychotechnik‘ der Folter eingebaut (vgl. Combalia 2003).

Die Folterkapazitäten moderner Kunst auch auf moderne Musik ausweitend fragt Žižek: „is it not one of the most vulgar commonsense opinions that viewing abstract art (like listening to atonal music) is torture (along the same lines, we can easily envisage a prison in which the detainees are exposed constantly to atonal music)?“ (Žižek 2009: 3)

Und in der Tat fällt es uns bei moderner Kunst und Musik leicht, süffisant auf die eigentliche Kulturlosikgkeit und Absurdität dieser zu verweisen, um einen Widerspruch zwischen unserer Wertschätzung für Kunst und ihrer brutalen Verwendung auszublenden. Es ist aber nichts an der modernen Kunst und Musik, dass diese der Folter besonders geeignet machte, noch etwas an ihr, was ihr widerstrebte. Vielmehr sagt der über Umwege in Žižeks Buch gekommene Bericht zunächst etwas über die moderne Folter. Sie ist banal. Daumenschrauben sind out. Hier ist Guantanamo Erbe Laurencics. Wiederholung, Dauer und die körpereigene Produktion von Schmerz jenseits unmittelbarer Gewaltanwendung lassen fast alles zum Werkzeug der Qual anderer Menschen werden.

Erst zweitrangig sagt uns der Bericht etwas über Kunst und Musik selbst – oder besser: unser Bild von ihnen. Und hierfür mag erhellender, weil das antimodernistische Ressentiment umgehend, sein, was gerade am Mainzer Bahnhof geprobt wird. Um die „Leistungsfähigkeit der Lautsprecheranlage“ auszuprobieren, so die offizielle Begründung, wird dort ab dem frühen Nachmittag klassische Musik auf den Bahnhofsvorplatz geschallt. Damit böse Zungen nicht übermäßig strapaziert werden, räumt der Geschäftsführer der Mainzer Verkehrsgesellschaft Jochen Erlhoff gleich offen ein, dass die Vertreibung von „die Haltestelle notorisch umlungernden Dauernutzern“ (Jacobs 2012) durchaus beabsichtigt ist.

Michael Jacobs lässt uns in seinem Artikel aus der Allgemeinen Zeitung weiter wissen:

„Erfolgsfanfaren kommen indes aus anderen Großstädten wie etwa Hamburg. Schon seit Längerem beschallt die Hansestadt ihren Hauptbahnhof und U-Bahn-Stationen mit Vivaldi, Mozart oder Brahms, um Obdachlose und Drogenabhängige in die Flucht zu schlagen. Höhere Frequenzen, wie zum Beispiel der Klang einer Geige, so ein Musikpädagoge, könnten bei Menschen unter Drogen durchaus als physischer Schmerz erlebt werden“ (Jacobs 2012).

Dabei fällt auf, wie selbstverständlich die Legitimität dieses Ziels der Vertreibung hingenommen wird. So stellen AZ-Redeakteurinnen Kirsten Strasser und wiederum Michael Jacobs in ihrem pro und contra zu der Beschallung dieses Ziel beide nicht in Frage. Strasser lässt die Vertreibung rechtfertigend wissen:

„Mozart macht Babys schlau, Liszt lässt Kühe mehr Milch geben. Alles sattsam bekannt. Nun wird der klassischen Musik ein weiteres Phänomen zugeschrieben: Beethoven und Co. sind gut fürs subjektive Sicherheitsempfinden und vergraulen jene, die dieses eben stören wollen. Zugegeben: Mit dem Gedanken, dass Klassik dazu dienen soll, ungeliebte Rumhänger und Kleindealer vom Bahnhofplatz zu vertreiben, muss man sich erst anfreunden. Aber wenn’s hilft?“ (Strasser 2012)

Die Vertreibung durch klassische Musik wird also gleich in eine Reihe positiver Wirkungen dieser eingereiht. Das „subjektive Sicherheitsempfinden“ von braven Bürgerinnen reicht dabei offensichtlich als absolutes Kriterium für das Recht aus, sich auf einem öffentlichen Platz aufhalten zu dürfen oder nicht. (Wenn dem so ist, muss man wohl gleich empfehlen auch Strategien zur Vertreibung von langhaarigen Männern, Frauen mit Kopftüchern, Männern mit Bärten, People of Color etc. etc. zu entwickeln, da diese ja bekanntlich ähnliche Wirkungen auf eben jene braven Bürgerinnen haben.) Der anklingende Zweifel an dieser Aktion gilt, dies macht der Nachsatz deutlich, nicht dem Ziel, sondern der Effektivität des Einsatzes von klassischer Musik. Wenn es „hilft“, ist es auch berechtigt.

Fast noch bezeichnender ist aber, dass Jacobs in seinem contra-Artikel die Vertreibungsabsichten gar nicht erst erwähnt. Stattdessen mutet er seinen Leserinnen eine sentimentale Kulturkritik zu, mit der er sich offensichtlich um einen Preis für kontemplativ ins Feuilleton gesabberten Kulturkonservatismus bewerben will. „Die größte Angst des medialisierten Menschen ist die vor der Stille“ (Jacobs 2012a). – Da wünscht man sich Karl Kraus nach Mainz. Hatte Jacobs zwei Tage vorher noch auf den physischen Schmerz verwiesen, den klassische Musik bei bestimmten ‚Zielgruppen‘ auslösen könne (dies hat er vermutlich aus einem Spiegel-Interview aus dem Jahre 2000 übernommen), so ist sein größtes Problem nun der „hirnerweichende[n] Easylistening-Mahlstrom der Kaufhäuser und Supermärkte – der blanke Horror“ (Jacobs 2012a).

Wie selbstverständlich wird hier begrüßt, dass ein öffentlicher Raum in das transformiert wird, was der Architektur- und Raumforscher Guido Brendgens „schein-öffentlichen“ Raum nennt. Längere Aufenthalte sollen verunmöglicht werden. Die legitime Nutzung dieses Raums wird fortan von der MVG definiert. Wer nur kurz bleibt, um den nächsten Bus zu nehmen, dem soll das Leben angenehm gemacht werden. Wer vorhat länger zu bleiben, muss vergrault werden. Anders als in einem privaten Raum ist in einem öffentlichen aber die Nutzung nicht vorgeschrieben. Und öffentlicher Raum zu sein, schreibt Jacobs (2012a) dem Bahnhofsvorplatz ja immerhin zu. Ebenso wenig gibt es im öffentlichen Raum eine Garantie, frei von jeder Ärgernis zu bleiben. Dafür muss man eben in seinen Golf- oder Kegelclub fahren, deren Hausordnungen dem ‚unerwünschten Publikum‘ den Zugang verwehrt.

Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Absichten der Vertreibung hingenommen werden, ist begründet in unserem Bild klassischer Musik. Und hier kommen wir dann auch wieder zurück, auf die zunächst überraschende Einheit aus Kunst und brutaler Macht, die Žižek anspricht. Böse Menschen singen keine Lieder, heißt es, und so glaubt man vorschnell, wo Lieder gesungen und gespielt würden, sei nichts böses zu erwarten. Der Geschäftsführer der MVG lobt sich selbst, dass dies doch „sanfte“ Mittel der Vertreibung seien (SWR 2012: 43s). Scheinbar belustigt schreibt Jacobs (2012b): „Und wenn gutes Zureden nicht hilft, dann muss es eben der donnernde Appell von Beethovens ‚Fünfter‘ richten.“ Eben dies aber, ist das besonders perfide der Vertreibung durch Klassik. In der Hochachtung für Kunst und Musik wird diese verharmlost. Der Rückgriff auf banale, sogar geschätzte Mittel zur Qual anderer und zu deren Vertreibung nimmt zugleich die Möglichkeit, dass diese ernst genommen wird, dass sie als Unrecht anerkannt wird.

Die Banalität der Mittel der Qual anderer anzuerkennen heißt aber, sich nicht von der Hochachtung vor den eingesetzten Mitteln über ihre niederträchtige Wirkung täuschen zu lassen.

Combalia, Victoria 2003: Arte moderno para torturar. Dibujos surrealistas y geométricos se usaron para castigar a los reclusos en checas, El País vom 26.1.2003, http://elpais.com/diario/2003/01/26/cultura/1043535602_850215.html (26.7.2012).

Der Spiegel 2000: Physischer Schmerz bei Geigenklängen, Interview mit Michael Büttner, Der Spiegel, 11/2000, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15930914.html (27.7.2012).

Jacobs, Michael 2012: Klassik-Attacke am Mainzer Hauptbahnhof – MVG will mit Bach und Co. an Haltestellen für Ordnung sorgen, Allgemeine Zeitung vom 24.7.2912, http://www.allgemeine-zeitung.de/region/mainz/meldungen/12229471.htm (26.7.2012).

Jacobs, Michael 2012a: Contra: Angst vor der Stille, Allgemeine Zeitung vom 26.7.2012, http://www.allgemeine-zeitung.de/region/mainz/meldungen/12236715.htm (26.7.2012).

Jacobs, Michael 2012b: Mainz: Bahnhofsbeschallung als Testlauf für künftige Service-Erweiterung, Allgemeine Zeitung vom 25.7.2012, http://www.allgemeine-zeitung.de/region/mainz/meldungen/12233011.htm (27.7.2012).

Strasser, Kirsten 2012: Pro: Klassische Klangprobe, Allgemeine Zeitung vom 26.7.2012, http://www.allgemeine-zeitung.de/region/mainz/meldungen/12236715.htm (26.7.2012).

SWR 2012: Klassik-Attacke vor dem Mainzer Hauptbahnhof, SWR Landesschau Rheinland-Pfalz vom 24.7.2012, http://www.swr.de/landesschau-rp/-/id=122144/did=10091170/pv=video/nid=122144/1lga5tu/index.html (27.7.2012).

Žižek, Slavoj 2009: The Parallax View, Cambridge/London: MIT Press.

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